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Behinderung wird als individuelles Problem gesehen, nicht als ein Merkmal unter vielen.

© Getty Images/David Espejo

„Angry Cripples“ begehren auf: Denn es ist schwer, nicht sauer zu werden, wenn man behindert ist

Am liebsten nimmt man Behinderte gar nicht wahr. Und wenn doch, stellt man sie auf einen Sockel und findet sie inspirierend. Kann „behindert“ bitte endlich nur ein neutrales Merkmal sein?

Ein Gastbeitrag von Alina Buschmann

Ich schreibe diesen Text, weil ich mir gewünscht hätte, ihn zu lesen, als ich meine Identität als behinderte und chronisch kranke Frau noch nicht benennen konnte. Als ich dachte, ich würde mich nur nicht genug anstrengen. Als ich mich gefühlt habe wie ein Alien, weil keine Person in meinem Umfeld meine Lebensrealität geteilt hat.

Behinderte Menschen finden in unserer Gesellschaft kaum statt. Und wenn sie stattfinden, dann wird von außen häufig ein ableistisches Bild von uns gezeichnet.

Wir sollen „besonders gut“ in unserem jeweiligen Feld sein, um von der Gesellschaft überhaupt wahrgenommen zu werden. Wir sollen „inspirierend“ für nicht-behinderte Menschen sein, damit sie anhand unserer Leben Motivation für ihr eigenes bekommen. „I’m not your inspiration, thank you very much“, also: „Ich bin nicht deine Inspiration, vielen Dank“ hieß der berühmte TED-Talk der australischen Journalistin und Behindertenaktivistin Stella Young, die 2014 leider verstorben ist.

Und ich würde diesen Satz am liebsten jeder behinderten Person mitgeben. Ich möchte, dass behinderte Menschen wissen, dass sie sich nicht von anderen Menschen für deren Wohlbefinden instrumentalisieren lassen müssen. Wie können behinderte Menschen in unserer Gesellschaft stattfinden, wenn sie keine ableistischen Narrative bedienen wollen? Hören uns Menschen überhaupt zu, wenn wir nicht inspirierend sein wollen?

Die Identifikation und das Anerkennen der eigenen Lebensrealität sind individuelle, langwierige und komplizierte Prozesse, die Personen selbst in ihrem eigenen Tempo durchlaufen müssen. Bei behinderten Menschen werden die oft nur zufällig angestoßen. Das bedeutet, dass es dem Zufall überlassen wird, ob behinderte Menschen die Möglichkeit bekommen, zu erfahren, dass ihre Behinderung kein vermeintliches „Problem“ ist, wie es uns viel zu oft suggeriert wird.

Von Ableismus, also der strukturellen Diskriminierung von behinderten und/oder chronisch kranken Menschen, haben viele Personen, denen ich begegne, noch nichts gehört. Mir wird dann schockiert entgegnet, wir würden mittlerweile in einer „toleranten“ und „offenen“ Gesellschaft leben.

Ich verstehe den Wunsch, als „gute Menschen“ wahrgenommen werden zu wollen. Soziale Gerechtigkeit entsteht nur leider nicht durch ein nettes Lächeln oder eine gut gemeinte Geste. Tatsächlicher sozialer Gerechtigkeit geht die Auseinandersetzung mit unseren diskriminierenden Strukturen und den eigenen Privilegien voraus.

Sätze wie „Check deine Privilegien!“ oder: „Wir sind alle ableistisch sozialisiert“ sind allerdings nicht „inspirierend“ genug, und Menschen fühlen sich nicht gut, wenn sie sie hören oder lesen. Aber für den Anspruch, sich gut zu fühlen, sollten nicht die Lebensrealitäten marginalisierter Menschen instrumentalisiert werden. Wenn nicht-behinderte Menschen behinderten Menschen zuhören, sind sie meistens beeindruckt oder haben Mitleid. Vielleicht auch beides.

Wahrscheinlich kommt einigen beim Lesen jetzt in den Kopf: „Das kann sie doch nicht so pauschalisieren!“ Unser gesellschaftliches Bild von Behinderung ist von Medien geprägt, in denen überwiegend nicht-behinderte Menschen arbeiten. Diese Menschen sind sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung oft nicht bewusst.

Behindertsein ist das Schlimmste, was einem überhaupt passieren kann?

Bei Beiträgen geht es häufig nur um eine packende Geschichte, die möglichst gut ankommt. So reproduzieren wir seit Jahrzehnten immer wieder dieselben Narrative über Behinderung. Etwa: Behinderung ist das Schlimmste, was jemandem passieren kann, ein „tragisches Schicksal“, etwas, was du verhindern solltest. Dadurch wird Behinderung als individuelles Problem angesehen und nicht als das, was sie ist: ein neutrales Merkmal.

Am liebsten nimmt man Behinderte gar nicht wahr. Und wenn doch, stellt man sie auf einen Sockel und findet sie inspirierend. 

© Andi Weiland/Andi Weiland

Solche Narrative zu bedienen, heißt nicht, ein „böser Mensch“ zu sein. Wir sind alle diskriminierend sozialisiert, haben alle diskriminierende Denkweisen und Handlungen verinnerlicht. Unsere Gesellschaft hat eine vermeintliche „Norm“ konstruiert: Wir sollen normschön, gesund, nicht-behindert, generell nicht marginalisiert und bloß nicht zu laut sein.

Menschen, die nicht dieser konstruierten gesellschaftlichen „Norm“ entsprechen, sind auch kein Teil der Vorstellung von Einzelpersonen. Sie werden also nicht mitgedacht und vergessen.

Ableismus ist viel mehr als das, was die meisten Menschen unter Behindertenfeindlichkeit verstehen. Beide Begriffe werden häufig fälschlicherweise synonym verwendet. Ableismus ist nicht nur das abschätzige „Bist du behindert?!“ oder bewusste Gewalt gegen behinderte Menschen, sondern auch die schädlichen Narrative, die wir alle verinnerlicht haben.

Ableismus ist auch ein nett gemeintes: „In meiner Welt gibt es keine Diskriminierung!“, was unsere Lebensrealität unsichtbar macht. Ableismus kann viel sein, und ich würde so weit gehen zu sagen, dass die vielen kleinen „nicht böse gemeinten“ Mikroaggressionen Gewalt sind.

Assistenz und Hilfsmittel werden als etwas Negatives betrachtet

Von behinderten Menschen wird erwartet, dass sie diese Gewalt weglächeln. Uns wird suggeriert, dass wir uns freuen sollen, wenn Personen überhaupt etwas mit uns zu tun haben wollen. Es geht teilweise so weit, dass uns erzählt wird, dass wir uns nur genug anstrengen müssten, um unsere Behinderung zu „überwinden“. Auch das ist eines der gewaltvollen und ableistischen Narrative, die sich hartnäckig halten.

Dabei entspricht das nicht unserer Lebensrealität. Behinderte Menschen fühlen sich durch diese Erwartungshaltung oft dazu gedrängt, so nicht-behindert wie möglich rüberzukommen. Statt als Mittel zur Teilhabe und für mehr Selbstbestimmung werden Assistenz und Hilfsmittel als etwas Negatives betrachtet. 

Menschen, die Assistenz benötigen, werden häufig als „anstrengend“ wahrgenommen. Dabei ist Assistenz für viele behinderte Menschen die einzige Möglichkeit zur Teilhabe. Und Teilhabe ist ein tatsächliches Recht. Wie kann es also sein, dass behinderte Menschen trotzdem um jedes Hilfsmittel, um Assistenz und um Teilhabe kämpfen müssen?

Unsere vermeintliche „Norm“ geht davon aus, dass wir alle die gleichen Voraussetzungen haben, um stattfinden zu können. Dabei sind Gleichheit und Gerechtigkeit nicht dasselbe.

Wieso muss man um Assistenz und Teilhabe kämpfen?

© Andi Weiland/Andi Weiland

Es gibt eine Grafik, die das veranschaulicht: Zu sehen sind drei Menschen, die unterschiedlich groß sind. Alle bekommen eine gleich hohe Kiste, um das Baseballspiel hinter dem Zaun sehen zu können. Nur die Person, die groß genug ist, sodass sie auch ohne Kiste das Baseballspiel sehen könnte, kann über den Zaun gucken. Die anderen beiden sehen nichts, obwohl alle das Gleiche bekommen haben.

Nur wer Hilfe braucht, bekommt sie auch

Auf der rechten Seite ist noch einmal das gleiche Szenario zu sehen, allerdings zeigt dieses, wie es im Falle der Gerechtigkeit aussehen würde: Alle Personen bekommen so viele Kisten, wie sie brauchen, um das Baseballspiel sehen zu können. Die größte Person erhält keine, weil sie keine braucht.

Auch mir fiel es lange schwer, diesen Unterschied zu verstehen, weil auch ich damit sozialisiert wurde, dass ich mich mit genug Anstrengung alle Erwartungen an mich erfüllen würde. Dass ich durch meine Marginalisierungen dafür gar nicht die gleichen Voraussetzungen habe, wurde mir erst klar, als ich meine Lebensrealität und meine Diskriminierungserfahrung benennen konnte.

Ableismus und andere Begriffe, die unterschiedliche diskriminierende Mechanismen beschreiben, sind wichtige Instrumente für Menschen, um gewaltvolle Erfahrungen einzuordnen und sich dagegen positionieren zu können. Es ist nämlich sehr schwer, sich gegen etwas zu wehren, wofür du keinen Namen hast. Und selbst während ich diesen Satz schreibe, überlege ich, ob ich „zu wütend“ wirke und damit Leser*innen verschrecken könnte. Dabei sollte es selbstverständlich sein, dass Menschen sich gegen Gewalt zur Wehr setzen wollen.

Gleichzeitig weiß ich, dass unsere Gesellschaft lieber inspirierende Geschichten hört. Geschichten von Menschen, die etwas Außergewöhnliches erlebt haben und „trotzdem“ weitermachen. Motivational Speaker*innen, also Menschen, die auf Bühnen stehen und das Publikum motivieren, indem sie von ihrem Leben erzählen, sind nicht selten behinderte Menschen, und tatsächlich war das auch mal mein Berufswunsch

Samuel Koch benutzt einen Rollstuhl, seit er 2010 in der „Wetten, dass..?“-Show von Thomas Gottschalk schwer stürzte.

© IMAGO/Christoph Hardt

Der Arbeitsmarkt ist nicht sonderlich inklusiv, und als ich bei Klinikaufenthalten gemerkt habe, dass sich meine Barrierefreiheitsanforderungen an einen Beruf ändern, dachte ich, der Beruf der Motivational Speakerin sei die logische Konsequenz für mich. Ich dachte, ich müsste sehr vielen Menschen immer wieder von meinen Traumata erzählen, damit sie anhand meines Lebens merken, dass sie alles schaffen können. Ich dachte, das sei meine einzige Möglichkeit, stattfinden zu können.

Es ist problematisch, dass behinderten Menschen suggeriert wird, dass sie nur stattfinden können, wenn sie ihre Geschichte, ihre Traumata, ihre Behinderung, ihre Diagnosen immer wieder so verpacken, dass Zuschauer*innen ihr eigenes Leben nicht mehr „ganz so schlimm finden“.

Das ist keine Kritik an den behinderten Menschen, die als Motivational Speaker*innen auf Bühnen stehen. Schließlich gibt es zu wenig Räume, in denen behinderte Menschen stattfinden können. Ich bin mir sicher, dass den wenigsten Leser*innen auf Anhieb eine behinderte Person einfällt, die zum Beispiel eine Late-Night-Show moderiert oder mit ihrer Musik in den Charts war.

Die Räume und die Bedingungen, unter denen unsere Community in unserer Gesellschaft stattfinden darf, scheinen klar abgesteckt zu sein: Wenn behinderte Menschen sichtbar sind, dann sollen sie nicht-behinderten Menschen ein gutes Gefühl vermitteln. Ironischerweise unterstützen wir genau damit die Annahme, dass Behinderung etwas Schlechtes sei und nicht das neutrale Merkmal, das sie sein sollte.

Wenn diese behinderte Person mit ihrer schlimmen Lebenssituation klarkommt, dann kann ich mit meinen Problemchen auch klarkommen.

Was Menschen so denken, wenn sie Motivational Speaker:innen zuhören

Menschen hören Motivational Speaker*innen zu und denken zum Beispiel: „Wenn diese behinderte Person mit ihrer schlimmen Lebenssituation klarkommt, dann kann ich mit meinen Problemchen auch klarkommen.“ Noch mal: Das zeichnet bereits ein ableistisches Bild, das sich aktiv auf die Lebensrealität von behinderten Menschen auswirkt.

Ein Bild, das langfristig dazu führt, dass behinderten Menschen oft nur Räume zugestanden werden, wenn sie genau jenes bedienen. Dass Barrierefreiheitsanforderungen nicht als Menschenrecht angesehen werden. Dass behinderte Menschen, die sich aktiv gegen unsere ableistischen Strukturen aussprechen, ständig als „zu laut“ und „zu wütend“ bezeichnet werden.

Behinderte sollten nicht die Leute sein, derentwegen man Weihnachts-Lose kauft

Behinderte Menschen müssen auch stattfinden dürfen, wenn sie nicht den „Wohlfühlmoment“ für nicht-behinderte Personen liefern. Wir brauchen Rechte, die zugänglich sind und die sich auch ohne langwierige, bürokratische Verfahren durchsetzen lassen. Aktuell leben wir jedoch in einer Gesellschaft, in der viele behinderte Menschen keine andere Wahl haben, als aktivistisch zu sein.

Es ist schmerzhaft, zu realisieren, dass wir alle diskriminierend sozialisiert sind und dass wir aktiv etwas an unseren ableistischen Strukturen ändern müssen. Das ist ein umfassender Prozess, der sich durch alle gesellschaftlichen Ebenen ziehen muss. Erst wenn Gesetze zur Teilhabe funktionieren, behinderte Menschen auch in Führungsetagen sitzen, behinderte Menschen nicht mehr nur eine Personengruppe sind, für die an Weihnachten Lose bei Sozial-Lotterien gekauft werden, und behinderte Menschen nicht mehr in Sonderwelten leben und arbeiten müssen, finden wir tatsächlich in unserer Gesellschaft statt.

Ich möchte auf keiner Bühne stehen und so tun, als wäre es eine Einstellungssache, wie du als behinderte Person von der Gesellschaft behandelt wirst. Ich möchte behinderten Menschen nicht das Gefühl geben, dass sie sich mehr anstrengen müssen, um „das Beste aus ihrer Behinderung zu machen“.

Ich möchte nicht, dass andere behinderte Menschen meine Arbeit sehen und sich wünschen, auch als Inspirationsquelle für nicht-behinderte Menschen herzuhalten. Ich möchte Chancengleichheit und Gesetze, die behinderten Menschen ermöglichen, barrierearm ihre Rechte durchzusetzen. Ich möchte eine Welt, in der es kein Zufall mehr ist, dass eine behinderte Person sagen kann: „Ich bin behindert und stolz.“

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