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Hier darf nicht jeder rein.

© dpa

Exiljournalisten schreiben zur Bundestagswahl: Ungezählte Stimmen

Rund zehn Millionen Menschen in Deutschland haben kein Wahlrecht. Welche Partei würde gewinnen, wenn alle wählen dürften?

An einem sonnigen, kühlen Augusttag demonstrieren am Oranienplatz rund 30 Menschen für ihr Wahlrecht. „Die Wahlplakate stehen für alle außer uns. Wir werden stumm geschaltet und das politische Mittel wurde uns weggenommen“, sagt Sanaz Azimipour, die auf der Bühne steht. Sie trägt ein weißes Hemd, einen bunten Schal und hat kurzes, lockiges Haar, das an einer Seite ganz kurz geschnitten ist. Ein paar Tage später sitzen wir in einem Café in Neukölln.

Es seien um die zehn Millionen Menschen, die hier leben und nicht wählen dürfen, so Azimipour. Denn sie haben die deutsche Staatsbürgerschaft nicht. In Berlin seien es allein 25 Prozent der Bewohner:innen. Eine von ihnen ist Azimipour selbst, die seit fünfeinhalb Jahren hier lebt. Woher sie komme und warum, findet die 28-Jährige, sei irrelevant. Neben ihren Studien der Genderstudies engagiert sie sich als Aktivistin gegen Rassismus und für Intersektionalität. Gemeinsam mit anderen Aktivist:innen und als Mitgründerin der Organisation „Migloom“ - die sich unter anderem für die politische Teilhabe von Migrant:innen einsetzt – startete sie online eine Petition unter dem Titel „Nicht ohne uns 14 Prozent: Bundestagswahlrecht für alle in Deutschland lebenden Menschen“. Sie fordern das Wahlrecht für alle, die hier seit fünf Jahren leben und Steuern zahlen, egal welchen Pass sie haben.

"Wir bezahlen Steuern wie alle anderen"

Warum dürfe sie nicht wie EU-Bürger mindestens auf kommunaler Ebene wählen?, fragt Sanaz Azimipour. „Dass wir kein Wahlrecht haben, ist eines der Beispiele von Marginalisierung und Diskriminierung von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft“, sagt sie in ihrem perfekten, akzentfreien Deutsch.

Wählen sei das wichtigste politische Instrument jedes Staates und die Grundvoraussetzung einer Demokratie, sagt Azimipour. Ohne dies würden die Interessen der betroffenen Menschen nicht vertreten. Diese seien: mehr Gerechtigkeit, mehr Teilhabe und Chancengleichheit, weniger Diskriminierung, bezahlbare Wohnungen und klimafreundliche Politik. „Wir bezahlen hier Steuern wie alle anderen und sind von der Politik genauso wie alle anderen betroffen und haben trotzdem kein Mitspracherecht. Das geht nicht“, sagt sie.

Symbolische Wahlen

Im Berlin-Mitte haben vom 13. bis 17. September zum dritten Mal symbolische Wahlen stattgefunden. Im Rahmen der Bundesinitiative „Wir wählen“, die von verschiedenen Migranten:innen-Vertretungen und -Organisationen gegründet wurde, organisiert das Bezirksamt Mitte die Symbolwahlen. Dieses Mal nahmen fast doppelt so viele Menschen daran teil wie letztes Mal: 971 Wähler:innen aus 60 verschiedenen Nationalitäten, teilte der Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel mit. Ein großer Teil von ihnen lebt seit über fünf Jahren in Deutschland. Von den Umfragen unterscheiden sich die Ergebnisse nicht groß: Die SPD an der Spitze mit 29 Prozent, mit drei Prozentpunkten Unterschied folgt die CDU, danach kommen die Grünen und die Linken mit jeweils 17 Prozent.

Über ein Drittel der Bewohner in Mitte kann nicht wählen

Kooperationspartner dieser Aktion ist „Demokratie in Mitte“ – eine Partnerschaft für Demokratie in Wedding, Moabit und im Zentrum. „Wir sehen Wahlen als Kern der Demokratie. Über ein Drittel der Bewohner im Bezirk Mitte können nicht wählen, darauf wollen wir aufmerksam machen“, sagt Jenny-Antonia Schulz, die als Projektkoordinatorin bei „Demokratie in Mitte“ arbeitet. Obwohl manche Menschen seit Jahrzehnten hier lebten, sei es nicht für jeden möglich, einen deutschen Pass zu bekommen, sagt sie weiter. Denn sie müssten dann ihren aktuellen Pass abgeben – eine doppelte Staatsbürgerschaft ist nicht für alle möglich. „Dies ist eine große Hürde vor allem für Menschen, die ihre Familien in ihren Heimatländern regelmäßig besuchen, die dort erben oder ein Haus für die Rente haben wollen. Es kann auch ganz unterschiedliche rechtliche Hürden geben, die Menschen davon abhalten, ihre Staatsbürgerschaft aufzugeben.“ Andere hätten ein zu geringes Einkommen. „Die Zahl der Einbürgerungen sinkt in Deutschland.“

Menschen motivieren, sich zu engagieren

Ziel der symbolischen Wahl sei es, die ungezählten Stimmen dieser Menschen sichtbar zu machen, das Thema ins Gespräch zu bringen und sie auf die politische Agenda zu setzen, sagt Schulz weiter. „Wir möchten über die Wahl hinaus einen Raum für Diskussionen und Vernetzung schaffen und die Menschen motivieren, sich politisch zu engagieren.“

Sanaz Azimipour von „Migloom“ möchte, dass Migranti:nnen von der Politik und der Gesellschaft als eine aktive und selbstbestimmte Gruppe ernst genommen werden, die mitgestaltet. Dafür wäre das Wahlrecht nicht die Lösung, aber ein erster Schritt in Richtung politische Partizipation für alle, so Azimipour. Man brauche viele Projekte, die Migrant:innen stärken, ihre politische Teilhabe fördern und unterstützen. „Wir brauchen neue Strukturen und die Solidarität der ganzen Gesellschaft, um alle zu betrachten und einzubeziehen.“

Befristetes Aufenthaltsrecht

In einem arabischen Café raucht Salem A. eine Shisha und spricht mit ruhiger Stimme. Alles wiederhole sich, er möchte wählen, könne aber nicht. Salem ist Palästinenser, er ist in einem Flüchtlingscamp im Libanon aufgewachsen. Seit 28 Jahren lebt er hier, hat keinen deutschen Pass, sondern ein befristetes Aufenthaltsrecht bis 2024. „Ich habe das Recht, die Partei zu wählen, die meine Anliegen vertritt und den Flüchtlingen hilft“, findet Salem. Jede Stimme, die verloren gehe, könne Parteien zugute kommen, die gegen Flüchtlinge seien, sagt der 48-Jährige. Es stimme schon, dass manche Geflüchtete mit Drogen und Waffen handeln und illegale Sachen machen, aber man dürfe nicht behaupten, dass alle so seien. „Diese kleine Gruppe repräsentiert uns nicht! Unsere Religion DER ISLAM]fordert es, die Staatsgesetze zu befolgen.“

Nach der Ablehnung seines Asyls wurde Salem einige Jahre geduldet. Er konnte keinen Sprachkurs besuchen und durfte nicht arbeiten. Erst als er zusammen mit einer deutschen Frau ein Kind bekam, erhielt er ein befristetes Aufenthaltsrecht, bis seine Tochter erwachsen wird.

Salem ist gegen Hartz 4

Im Jahr 2009 beantragte Salem zum ersten Mal einen deutschen Pass, seitdem bekam er nur Ablehnungen. Einmal, weil er aufgrund des Tragens einer Waffe angezeigt worden war. „Ich wurde aber inzwischen für unschuldig erklärt! Das ist so lange her, die Akte müsste gelöscht werden.“ Ein anderes Mal, weil er Sozialhilfe bekam. „Ich arbeite seit 18 Jahren als Security-Mann. Aber ich darf nur in Teilzeit arbeiten, weil ich an Epilepsie erkrankt bin und täglich auf Medikamente angewiesen bin.“

Letztens habe er vom Bezirksamt einen Brief bekommen, ob er noch an der Staatsbürgerschaft interessiert sei. „Sie sagten mir, es fehle noch eine Unterlage vom Jugendamt. Aber da bekomme ich seit Monaten keinen Termin. Wegen Corona.“

Von der Politik erhofft sich Salem einiges. Er möchte, dass Arbeitsfähige kein Hartz 4 bekommen, denn das sei ungerecht. „Alle jungen, gesunden Menschen müssen was lernen und arbeiten gehen. Nicht Sozialhilfe bekommen und schwarzarbeiten.“ Salem möchte auch, dass gegen Wohnungsmakler vorgegangen wird, die von Geflüchteten Wucherpreise für die Vermittlung einer Wohnung verlangen. „Man muss mittlerweile 6000 bis 7000 Euro zahlen, um eine Mietwohnung zu bekommen! Alle, die das nicht zahlen können, bleiben in ihren Unterkünften.“

Mit seiner Stimme will er mehr erreichen. „Ich habe die Hoffnung, dass die Deutschen verstehen, dass ich auch ein Mensch bin, der die gleichen Träume hat und gleiche Rechte haben muss.“

Dieser Text erscheint im Rahmen des gemeinsamen Projekts "Stimmen des Exils" von Tagesspiegel und Körber Stiftung. Der Tagesspiegel hat seit 2016 regelmäßig Texte von Exiljournalist:innen unter dem Titel #jetztschreibenwir veröffentlicht. Die Körber-Stiftung führt Programme durch, mit denen die journalistischen, künstlerischen und politischen Aktivitäten exilierter Menschen in Deutschland gestärkt werden. Dazu zählen Kooperationen mit den Nachrichtenplattformen "Amal, Berlin!" und "Amal, Hamburg!" Weitere Formate sind das "Exile Media Forum", die "Tage des Exils" und "Exil heute".

Hend Taher

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