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Ana Lessing Menjibar, Performerin und UdK-Alumna, im Kostüm ihrer Performance „Perpetual Archive“, entworfen von Eric Winkler.

© Nikolaus Brade

David Schutter sitzt in den USA fest: Weder hier noch dort

Der Künstler David Schutter wollte im April eine Professur an der UdK Berlin antreten. Doch noch immer sitzt er in seiner Heimatstadt Chicago in den USA fest und ist Zeuge eines Landes in Aufruhr.

Am Nachmittag des 12. März 2020, es war ein Donnerstag, sah ich zu, wie Kunsttransporteure die letzten Dinge aus meinem Atelier ausräumten. Gemälde und Bücher, Hunderte von Zeichnungen, Schränke mit Dokumenten und Fotografien, alle meine Pinsel und Werkzeuge waren ordentlich in maßgefertigten Pappkartons verstaut. 

Zwei Tage später war mein Atelier so leer, als wäre ich nie dort gewesen. Nach 15 Jahren als Professor an der University of Chicago sollte ich für meine neue Aufgabe nach Berlin wechseln: eine Professur an der Universität der Künste Berlin.

Während die Packer packten, lief das Radio, und die Nachrichten klangen nicht gut. Es waren die ersten Tage der Krise der Covid-19-Pandemie in den USA. 

Nachdem die Regierung das Thema monatelang vernachlässigt hatte, überschlugen sich die Meldungen plötzlich mit Spekulationen über Schulschließungen, rationierte Lebensmittel und Reisebeschränkungen. 

Auf dem Heimweg hielt ich am Supermarkt, um eine Flasche Wein und etwas zum Abendessen zu kaufen. Im Laden herrschte Chaos: Die Regale, in denen sonst Nudeln, Seife, Wasser und Toilettenpapier zu finden waren, waren wie leergefegt, die Tiefkühltruhen leere, weiße Reihen. Schon jetzt waren die Menschen verzweifelt.

Meine Koffer waren schon halb gepackt

Am darauffolgenden Montag, dem 16. März, sollte ich mit meinem Haushalt umziehen. Alles war schon eingeräumt, sogar mein Koffer war schon halb gepackt, und die Bücherkisten stapelten sich hüfthoch in der ganzen Wohnung. In der Küche gab es nur noch zwei Gläser, zwei Teller und so weiter. 

Am nächsten Tag sollte ich von Chicago nach Berlin fliegen, um am 18. März in einem Festakt in der Akademie der Künste den Berliner Kunstpreis entgegenzunehmen. Doch schon seit Tagen war klar, dass nicht nur der internationale Reiseverkehr zusammenbrach, sondern dass die Lage insgesamt sehr unsicher war.

Ich erinnere mich an Bilder von Menschenmassen, die sich am Chicago O'Hare International Airport drängten, während Flüge im Stundentakt storniert wurden. Am Morgen des 14. März wurde die Preisverleihung in der Akademie abgesagt – so wie alle öffentlichen Versammlungen in Deutschland. 

David Schutter ist Professor für Bildende Kunst an der UdK Berlin. Er wartet auf seinen Umzug.
David Schutter ist Professor für Bildende Kunst an der UdK Berlin. Er wartet auf seinen Umzug.

© Courtesy of Aurel Scheibler

Da alles so unsicher war, beschloss ich, den Umzug zu verschieben und meinen Flug zu stornieren. Zwischen meinen Kartons sitzend sah ich im Fernsehen, wie Bundeskanzlerin Merkel am 17. März ein Reiseverbot verkündete. Ich hätte es sowieso nicht geschafft.

Nun war klar, dass ich so schnell nicht nach Berlin kommen würde, schon gar nicht rechtzeitig zu Beginn des Sommersemesters.

Die Tage vergingen im immer gleichen Trott

Das war vor 96 Tagen: als ich die Kunsttransporteure anrief und sie bat, mein Atelier sicher zwischenzulagern, als ich begann, fast den ganzen Tag in meiner Wohnung zu bleiben, und in den seltenen Fällen, wenn ich das Haus verließ, ziellos in der Nachbarschaft umherzulaufen, um mich zu bewegen, und als ich begann, Lebensmittel mit Desinfektionsmittel abzuwischen.

Ich verfolgte die schrecklichen Tragödien, die sich in Spanien und Italien abspielten und die sich dann in New York und New Jersey wiederholten. Ab April trug ich eine Maske und hielt zwei Meter Abstand. Ich kaufte weiterhin fast genauso regelmäßig im Supermarkt ein wie vor der Krise. 

Für mich war dies eine Möglichkeit, die Auswirkungen und Ausmaße direkt zu erleben. Ich packte meine Küche wieder aus. Ich las die vielen Bücher, die ich für meinen Umzug nach Deutschland gekauft hatte, eines nach dem anderen, bis der Stapel von ungelesen zu gelesen umgeschichtet war. 

Die Tage vergingen im immer gleichen Trott. Aber ich fand auch einige kleine schöne Dinge: Die meisten Bücher waren englischsprachige Krimis, etwas, von dem ich dachte, dass es in Berlin schwer zu bekommen sei. Ungefähr 20 davon waren von Georges Simenon. Ich las einen nach dem anderen.

In den USA ist die Ungleichheit an den Pandemiezahlen abzulesen

Nachdem ich fast 30 Jahre lang Zigaretten geraucht hatte, wechselte ich zur Pfeife – auch aus Angst vor Covid-19, das die Atemwege angreift. Am letzten Tag vor dem Chicagoer Lockdown kaufte ich eine kleine italienische Pfeife und reichlich Tabak. War es ein Zufall, dass ich vom Pfeife- rauchenden Inspektor Maigret las?

Die Klassenunterschiede in Amerika sind für jeden, der Augen im Kopf hat, offensichtlich. Ab Mai konnte man die Ungleichheit an den Pandemiezahlen ablesen. 

Während die einen draußen in der Welt arbeiten mussten und dem Virus zum Opfer fielen, blieben die anderen in ihrem sicheren Zuhause, bestellten Lebensmittel online, kauften Monatsrationen an Masken und Desinfektionsmittel und überlebten.

Eine große Zahl der Erkrankten waren persons of colour. Viele von ihnen hatten Vorerkrankungen, die ihre Ursache darin hatten, dass sie nicht erkannt oder nicht rechtzeitig behandelt wurden – all dies Auswirkungen eines Gesundheitssystems, das dem Spätkapitalismus verpflichtet ist. 

Dieses traurige Schauspiel anzusehen, bedeutete, Zeuge einer weiteren rassistischen Ungerechtigkeit zu werden. Und dann wurde am 25. Mai George Floyd von der Polizei von Minneapolis ermordet. Die Welt hat die Flammen beobachtet, die dieses letzte Ereignis entfachte, ich brauche das hier nicht noch einmal zu rekapitulieren.

Als ich gebeten wurde, diesen Text zu schreiben, bat man mich, diese Situation des In-der-Schwebe-Seins zu beschreiben. Wie es sich anfühlt, weder hier noch dort zu sein. Meine Antwort lautet: Die Welt ist in der Schwebe.

Prekäre Momente als Chance der Veränderung

Ich bin in Chicago. Und was ich in den letzten Monaten habe ausbrechen sehen, von der Pandemie bis zu den Protesten wegen des Mordes an George Floyd, konnte nur hier geschehen und ist zurückzuführen auf die hässlichen Wunden, die wir in die Geschichte unserer Nation geschlagen haben, und die wir immer wieder neu schlagen werden, wenn wir diesen prekärsten Moment unserer Gegenwart nicht als Chance für eine Veränderung nutzen.

Es wäre schwierig und gefährlich gewesen, schon im März nach Berlin zu kommen. Viel ist passiert, und es war wichtig, das auch von hier aus zu sehen und zu erleben. 

Jetzt habe ich wieder damit begonnen, Pläne für meinen Umzug zu machen. Ich hoffe nun, im August in Berlin anzukommen bei meinen neuen Kollegen und Studierenden.

Der Autor ist Professor für Bildende Kunst an der UdK Berlin. Zuvor war er Associate Professor am Department of Visual Arts der University of Chicago. Seine Arbeiten waren 2017 auf der documenta 14 zu sehen. Im März erhielt er den Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste.

David Schutter

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