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„Waren unsere Ziele zu ehrgeizig?“ Angela Merkel bei ihrer Rede am Mittwoch.

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Das Afghanistan-Fiasko im Bundestag: Wie Merkel das Versagen ihrer Regierung erklärt

Es ist ihre wohl schwerste Rede im Parlament. Die Kanzlerin erklärt, was kaum erklärbar ist: Wieso Deutschland viele afghanische Ortskräfte nicht gerettet hat.

Von Robert Birnbaum

Angela Merkel guckt strikt geradeaus, irgendwo in die Tiefe des Reichstagssaals, jedenfalls nicht rüber zum Rednerpult. Dort steht nämlich gerade Dietmar Bartsch, „Der gescheiterte Afghanistan-Einsatz ist der schwärzeste Punkt in Ihren 16 Jahren Kanzlerschaft“, donnert der Linksfraktionschef.

Bartsch hätte selbst einiges zu erklären an diesem Tag, an dem der Bundestag im Nachhinein den Rettungseinsatz in Kabul absegnet, aber seine Truppe sich nur zur Enthaltung durchringt. Doch der Linke wählt den Angriff als Verteidigung. Und was konkret den schwärzesten Punkt angeht – da würde nicht einmal Merkel selber widersprechen.

Im Plenarsaal herrscht an diesem Tag eine seltsam unwirkliche Atmosphäre. Das Geschäftsmäßige einer Bundestagsdebatte passt nur schwer zu der Realität, von der sie handelt.

5000 Kilometer von hier drängen sich im gleichen Moment verzweifelte Menschen rund um den Flughafen von Kabul, kämpfen sich andere noch durch die verstopfte Millionenstadt, versuchen Soldaten, selbst am Rand der Erschöpfung, so viele wie möglich der Glücklichen, die auf ihren Listen stehen, in die riesigen Militärtransporter zu bugsieren.

Viel Zeit bleibt nicht mehr. „Einige Tage“, sagt Merkel. Nur noch bis morgen, will ein Redner im Verteidigungsausschuss gehört haben.

Schäuble: „Die Verzweiflung zerreißt einem das Herz“

„Die Verzweiflung der Menschen am Flughafen zerreißt einem das Herz“, sagt Wolfgang Schäuble. Viele werden später von einem Desaster für die Staaten des Westens reden und einer Tragödie für die Menschen in Afghanistan. Aber keiner findet so emotionale Worte wie der Bundestagspräsident in seiner kurzen Einleitung. Vielleicht liegt es daran, dass sie alle aus unterschiedlichen Gründen kein wirklich reines Gewissen haben können.

„Wir konnten diesen Kampf nicht gewinnen“. Wolfgang Schäuble bei seiner Bundestagsrede.
„Wir konnten diesen Kampf nicht gewinnen“. Wolfgang Schäuble bei seiner Bundestagsrede.

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Die auf der Regierungsbank jedenfalls haben es nicht. Am späten Vorabend sind die Mitglieder des Krisenkabinetts klammheimlich im Kanzleramt gewesen. Merkel hat vom G7-Videogipfel berichtet, der kurz vorher die Lage beraten hatte.

Das Ergebnis ist so ernüchternd wie klar. US-Präsident Joe Biden will das Kapitel Afghanistan jetzt abschließen, und zwar ziemlich egal um welchen Preis. Am 31. August, dem nächsten Dienstag, wird kein US-Militär mehr am Hindukusch sein. So hatte es die US-Regierung im Sommer im katarischen Doha mit den Taliban vereinbart.

Die neuen Herren in Kabul pochen im Vollgefühl ihrer Macht auf Vertragstreue. Wer noch irgend etwas bei ihnen erreichen will, tut gut daran, sich ans Versprochene zu halten.

Die Krisenrunde hat sich dann noch mit den Konsequenzen für die Bundeswehr-Mission beschäftigt. Auch die sind so ernüchternd wie klar. Das kleine Häuflein deutscher Kämpfer, Polizisten und Beamten des Auswärtigen Amts muss aus Kabul abrücken, solange die gut 6000 Amerikaner den Rückzug noch decken.

Ob der letzte Flug mit Schutzbefohlenen dann am Freitag geht oder am Samstag oder wann auch immer, hängt auch von der Einschätzung vor Ort ab. General Jens Arlt hat von seiner Ministerin freie Hand fürs Operative bekommen.

Merkel: „Wir werden Zeuge furchtbarer Dramen“

Die Ministerin sitzt am Mittwochmittag ganz links in der zweiten Reihe der Regierungsbank. Annegret Kramp-Karrenbauer schaut meist auf ihr Smartphone. Einmal geht sie kurz raus.

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Die Regierungsbank ist sowieso ein interessanter Anblick. Dort sitzen die, die auch am Abend im Kanzleramt waren: Heiko Maas, Gerd Müller, Horst Seehofer, Olaf Scholz, die Kanzlerin und ihr Amtschef Helge Braun. Nur Svenja Schulze passt nicht in die Galerie, weil die Umweltministerin mit dem Debakel von Kabul nun wirklich nicht direkt zu tun hat.

Alle anderen haben es: der Außenminister, der Entwicklungsminister, der Innenminister, der Vizekanzler. Merkel hat selten derart im Wortsinn eine Regierungserklärung abgegeben, als Kanzlerin im Namen ihrer ganzen Regierung.

Auch sie erinnert als erstes an das Elend in Kabul: „Wir werden Zeuge furchtbarer Dramen“, sagt Merkel, bitter seien die letzten Tage, für die Menschen in Afghanistan, für die Verbündeten, für die Soldaten und für die Familien der 59 Bundeswehr-Angehörigen, die in dem Einsatz starben. Sie erinnert an einen Beamten des Bundeskriminalamts, der bei einem Anschlag in Afghanistan umkam: „Ich kannte ihn gut.“ Der Mann war vorher einer ihrer Personenschützer. Mit den Eltern habe sie immer noch Kontakt.

Auf der Besuchertribüne verfolgt eine Handvoll Soldaten die Debatte, Veteranen des Einsatzes. Hinter ihren Masken sind so wenig Regungen zu erkennen wie hinter denen der Regierenden da unten. Nur manchmal lassen Maas’ verschränkte Arme erahnen, dass sie sich auf der Regierungsbank womöglich nicht richtig wohl fühlen.

Merkel ist inzwischen beim politisch heiklen Teil ihrer Rede angekommen: Wie erklärt man, dass der zweitlängste, bei weitem teuerste und intensivste deutsche Auslandseinsatz derart endet, in heillosem Chaos und einer Rückkehr der Islamisten, als hätte es die 20 Jahre dazwischen nie gegeben?

Gauland: „Für Geschlechtergerechtigkeit mussten deutsche Soldaten ihr Leben lassen“

Die Kanzlerin verteilt die Verantwortung breitmöglichst. Alle seien zuletzt vom Tempo überrascht worden, auch die Verbündeten, und alle hätten vorher vor einem Dilemma gestanden: Die Ortskräfte frühzeitig zu evakuieren wäre als Signal verstanden worden, dass die Allianz das Land verloren gibt.

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Für die lange Linie ruft sie den verstorbenen SPD-Verteidigungsminister Peter Struck zum Zeugen an und den grünen Ex-Außenminister Joschka Fischer, der einen „historischen Kompromiss“ der verfeindeten Gruppen in Afghanistan anstrebte. Und sie endet mit einer ganzen Serie von Fragen: „Waren unsere Ziele zu ehrgeizig?“ etwa oder auch Richtung Washington: „War es nicht extrem riskant, wenn nicht sogar falsch, in Doha ein festes Abzugsdatum zu nennen?“

Darauf jetzt schon zu antworten, sei vermessen, sagt Merkel. Dafür müsse man sich Zeit nehmen. Ganz rechts und ganz links von ihr finden sie das nicht. Im Chor folgt auf ihre Fragen ein entschlossenes „Ja“ aus AfD und Linksfraktion.

Bei der AfD haben sie sich sowieso entschlossen, dem Rettungseinsatz später zuzustimmen, aber sonst die Gelegenheit zum Wahlkampf zu nutzen.

Fraktionschef Alexander Gauland versucht, den alten Hit seiner Partei neu aufzulegen. Statt „im Orient Frauenrechte gegen die Taliban zu verteidigen“, solle die Bundeswehr die Grenzen verteidigen, damit nicht „der Hindukusch nach Deutschland“ komme, giftet Gauland. „Um Geschlechtergerechtigkeit in die moslemische Welt zu bringen, mussten deutsche Soldaten ihr Leben lassen!“

Christian Lindner: „Organisierte Verantwortungslosigkeit“

Was die Soldaten auf der Besuchertribüne wohl dabei denken? Ihre Mienen sind immer noch unergründlich. Der Wahlkampf schleicht sich auch bei den anderen in die Debatte ein. Da zieht der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich über „angeblich gut klingende geschlossene Expertenzirkel“ wie einen nationalen Sicherheitsrat her, einen Vorschlag des Kanzlerkandidaten Armin Laschet von der CDU.

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Dem springt nicht nur Laschets Parteifreund Johann Wadephul, sondern auch der FDP-Chef Christian Lindner bei: „Es wäre vernünftig, wenn diesem Vorschlag von Herrn Laschet gefolgt würde.“ Danach teilt Lindner gegen die Regierung im Allgemeinen aus wegen „organisierter Verantwortungslosigkeit“, attackiert SPD und Grüne, weil sie der Bundeswehr keine bewaffneten Drohnen genehmigen wollen, und fordert vom SPD-Kandidaten Scholz und Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock eine klare Absage an ein Bündnis mit der Linken.

Bleibt noch zu erwähnen, dass Mützenich seinen Spitzenkandidaten als Alternative zum Sicherheitsrat anpreist: „Was wir vielmehr brauchen, ist ein Regierungschef mit Augenmaß.“ Dass das Baerbock zu der Bemerkung reizt, der Herr Vizekanzler sei bei jeder Entscheidung dabei gewesen. Dass die Grünen-Kandidatin im Eifer nicht nur die gesamte Redezeit ihrer Fraktion aufbraucht, sondern auch die noch überzieht, um Seehofer wie Scholz vorzuwerfen, sie hätten die Lage in Afghanistan nicht ernst genommen, weil beide weiter Menschen nach Afghanistan abschieben wollten.

Merkel: „Die Taliban sind jetzt Realität in Afghanistan“

Kleine Münze das alles, auch ein bisschen unwirklich an so einem Tag. Wie hatte Schäuble vorhin gesagt? Der Westen habe die Saat der Freiheit am Hindukusch gesät. „Daraus erwächst auch eine moralische Verpflichtung.“ Der Anspruch des Westens, eine Demokratie zu etablieren, sei aber gescheitert. „Wir konnten diesen Kampf nicht gewinnen“, sagt der Bundestagspräsident. „Aber jetzt müssen wir mit unseren Verbündeten zeigen, dass wir der Niederlage wenigstens gewachsen sind.“

[Über die Stärke der Taliban können Abonnenten von T+ hier mehr erfahren: Panzer, Drohnen, Hubschrauber – die Taliban sind noch gefährlicher als 2001]

Das wird schwer. „Die Taliban sind jetzt Realität in Afghanistan“, sagt Merkel. Sie bestimmen, wer das Land noch verlassen darf und wer nicht. Sie werden versuchen, gerade die an der Ausreise zu hindern, die unter dem Schirm der westlichen Allianz Bildung und Fertigkeiten erworben haben. Sie werden sich nicht viel sagen lassen, höchstens einiges abkaufen.

Wahrscheinlich war es das, was Schäuble im Sinn hatte: Dass die Geschlagenen die Realitäten anerkennen, das gehört mindestens dazu, der eigenen Niederlage gewachsen zu sein.

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