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Samuel Salzborn ist seit August Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin,

© Kitty Kleist-Heinrich

Zwischen Corona-Demos und jüdischem Alltag: „Natürlich hat Berlin ein Antisemitismus-Problem“

Samuel Salzborn über die Verbreitung antijüdischer Ressentiments – und die Folgen für das Leben in Berlin. Sein erstes Interview als Antisemitismusbeauftragter.

Samuel Salzborn beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren wissenschaftlich mit Antisemitismus, „in all seinen Facetten“. Seit August arbeitet er als Ansprechpartner des Landes Berlin für Antisemitismus. Der 43-jährige Sozialwissenschaftler und Hochschullehrer ist einer der anerkanntesten Antisemitismusforscher. Nach den Corona-Demonstrationen in Berlin twitterte er: „Das Thema Corona ist lediglich ein Vorwand für antidemokratische & antisemitische Ressentiments.“

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Im ersten Interview im neuen Job spricht er über das Erstarken antisemitischer Verschwörungstheorien in der Pandemie, jüdisches Leben in Berlin und die einseitige Perspektive auf Juden und Israel in der deutschen Gesellschaft.

Herr Salzborn, auf den Corona-Demonstrationen liefen Menschen mit angehefteten Judensternen, in Chatgruppen der Verschwörungsideologen wird vor George Soros oder Zionisten gewarnt. Erleben wir neue Ausprägungen des Antisemitismus, der Ressentiments gegen alles Jüdische?
Das ist nichts grundlegend Neues, würde ich sagen. Es gab schon immer Vorwände, die für solche Verschwörungsfantasien herhalten mussten. Jetzt ist es halt ein sehr aktueller, der alle Menschen betrifft: das Coronavirus. Schwer durchschaubare, abstrakte Phänomene wie eine Pandemie werden zum Anlass genommen, um zu vereinfachen und Vorurteile konkret gegen Personen oder Personengruppen zu richten. Wir wissen aus der Geschichte – etwa aus der Zeit der Pest – dass das nicht nur in der Struktur antisemitisch ist, sondern auch antijüdisch ausbuchstabiert wird und sich dann eben gegen „die Zionisten“ oder Einzelpersonen wie George Soros richtet.

Zehntausende gingen auf die Straße, unter ihnen wurden antijüdische Ressentiments offen verbreitet und gebrüllt. Verbreiten sich solche Gedanken wieder stärker?
Durch Social Media ist heute einerseits die Möglichkeit zu mobilisieren viel größer geworden. Vor 10, 15 Jahren wären solche Demonstrationen wahrscheinlich Kleinstveranstaltungen geblieben. Andererseits bestärken sich dort Gleichgesinnte wechselseitig in ihrem Weltbild – so verrückt die Ansichten auch im Konkreten sind.

Würden Sie die Demonstranten als Antisemiten bezeichnen, weil sie solchen strukturell antisemitischen Weltbildern folgen?
Ich vermag genauso wenig wie alle anderen die Einzelmotivation der Demonstranten zu bewerten. In der Gesamtheit kann man aber sagen, dass die Menschen verbunden sind durch ein Verschwörungsweltbild, das einen antidemokratischen und antisemitischen Kern hat. Es wendet sich im Affekt gegen demokratische Entscheidungen und ist unterlegt mit antisemitischen Motiven. Insofern muss man mit zunehmender Dauer der Proteste davon ausgehen, dass die Zahl der Menschen, die gar nicht wissen, mit wem sie sich dort auf die Straße stellen, extrem gering ist.

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Auch die Zahl der tatsächlichen antisemitischen Gewalttaten in Berlin ist in den vergangenen Jahren gestiegen – von sieben im Jahre 2017 auf mehr als 20 in den vergangenen beiden Jahren. Der Hass beschränkt sich also nicht auf das Internet oder auf ein, zwei Demonstrationen.
Wir haben ein sehr komplexes, sich über viele Jahre entwickelndes Phänomen, bei dem zwei Dinge oft vergessen werden: Erstens geht meist ein langer Radikalisierungsprozess voraus, bevor jemand auf der Straße einen Angriff ausübt. Das fällt also nicht vom Himmel. Antisemitische Einstellungen stabilisieren sich vorher über Jahre. Zweitens wird meist die Dynamik unterschätzt, die dahintersteht: Auch wenn die Täter allein handeln, sind es keine Einzeltäter. Sie agieren in einem sozialen Umfeld, dass sie sozial stabilisiert und das die Weltbilder teilt und sie logistisch unterstützt. Solche Handlungen greifen immer darauf zurück, dass es eine große soziale Einbindung der Personen gibt.

Nirgendwo in Deutschland gibt es so viele antisemitische Gewalttaten wie in Berlin. Hat die Hauptstadt ein besonderes Problem mit Judenhass?
Natürlich hat Berlin ein Antisemitismusproblem, so wie die ganze Bundesrepublik ein Antisemitismusproblem hat. Aber wir dürfen nicht vergessen: Wir wissen auch mehr über den Antisemitismus in Berlin und können sein Ausmaß besser ermessen als die meisten anderen Bundesländer. Weite Teile der Bundesrepublik sind Black Boxes in Bezug auf Judenhass. In Berlin ist seit Jahren die Struktur von RIAS etabliert, wir haben einen Antisemitismusbeauftragten bei der Polizei, eine Antisemitismusbeauftragte bei der Staatsanwaltschaft, die beide mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenarbeiten. Insofern wird das, was wir in der Forschung Dunkelfelderhellung nennen, in einem größeren Maße erfasst.

Woher drohen Jüdinnen und Juden in Berlin aus Ihrer Sicht die größten Gefahren?
Wir haben es mit einem gesellschaftlichen Klima in der Bundesrepublik zu tun, in dem Antisemiten das Gefühl haben, dass sie nicht wirklich mit einer Form von Ablehnung oder Sanktionen zu rechnen haben. Antisemiten fühlen sich nach wie vor im Aufwind. Wir müssen deshalb jede Form von Antisemitismus im Blick haben und gleichermaßen bekämpfen. Es ist aber fraglos so, dass in politischen Milieus, in denen Antisemitismus eine wichtige integrale Klammer ist – gerade im Rechtsextremismus, aber auch im radikalen Islamismus – die Schwelle niedriger liegt, um aus Denken Handeln werden zu lassen.

Seit Jahren kritisieren jüdische Verbände, auch der Zentralrat der Juden, dass Straftaten gegen Juden per se als rechts motiviert eingeordnet werden, wenn sich keine Täter finden lassen. So entsteht ein Zerrbild der realen Bedrohungslage. Warum ändert sich daran nichts?
Eine eindeutige Identifizierung, wie sie zum Beispiel RIAS sehr viel präziser versucht, bildet sich in der politisch motivierten Kriminalitätsstatistik noch nicht eins zu eins ab. Das heißt, wir haben da, ohne das quantifizieren zu können, sicherlich eine Schieflage nicht nur in Berlin, sondern bundesweit. Ich würde sehr davor warnen, verschiedene Formen des Antisemitismus gegeneinander auszuspielen. Ich teile jedoch absolut die Einschätzung, dass dieses System einen Reformbedarf hat. Insofern ist es völlig richtig, dass von vielen Stellen darauf hingewiesen wird.

Will jüdisches Leben stärker in der Stadtkultur verankern: Samuel Salzborn.
Will jüdisches Leben stärker in der Stadtkultur verankern: Samuel Salzborn.

© Kitty Kleist-Heinrich

Seit einem Monat arbeiten Sie als Ansprechpartner des Landes Berlin. Sie hatten selbst darauf hingewiesen, dass es schon mehrere Beauftragte gibt – etwa in der Justiz und in der Polizei. Wie wollen Sie ihre Rolle interpretieren?
Das Wort Ansprechpartner war eine bewusste Wahl des Landes Berlin, um damit zu signalisieren, dass es eine Rolle ist, die ganz besonders die jüdische Community, aber auch die mit Antisemitismus und Prävention befassten Einrichtungen im Land Berlin adressiert. Letzten Endes geht es auch um Vermittlung in den Senat, ins politische Berlin. Wir wollen gemeinsam mit den engagierten Akteuren jüdisches Leben stärker in der Stadtkultur verankern, damit jüdisches Leben wieder zum normalen Alltag wird in Berlin. Dafür muss nicht nur das Sicherheitsgefühl der jüdischen Community wiederhergestellt werden, sondern auch die reale Sicherheitslage stimmen.

Bei Ihrer Vorstellung hatten Sie gesagt, Sie würden vor allem in den Schulen Handlungsbedarf sehen. Was müsste sich verbessern aus Ihrer Sicht?
Die Darstellungen des Nationalsozialismus und der Shoah genügen heute weitgehend den Anforderungen. Insbesondere der Nationalsozialismus scheint in Schulbüchern aber keine Vor- und keine Nachgeschichte zu haben. Damit wird das Thema Judentum und Antisemitismus sehr auf den Geschichtsunterricht fokussiert. Jüdinnen und Juden kommen in Schulbüchern wesentlich als Opfer – im Bezug auf den Nationalsozialismus – oder als Täter im Bezug auf den Nahostkonflikt vor.

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Damit geht eine sehr, sehr einseitige Darstellung von Israel in den Schulbüchern einher, die viele Fragen beispielsweise des Pluralismus oder der multikulturellen Gesellschaft des Landes nicht in den Blick nimmt, sondern aus dezidiert pro-palästinensischer Sicht auf den Konflikt fokussiert. Phänomene wie Terrorismus und Antisemitismus werden ausgeblendet.

Der Antisemitismusbeauftragte von Baden-Württemberg, Michael Blume, hat angeregt, häufiger positiv über jüdisches Leben zu sprechen und es nicht nur über den Kampf gegen Antisemitismus zu definieren. Sprechen wir zu viel über Judenhass?
Wir sprechen nicht zu viel, sondern zu wenig über Antisemitismus. Es gibt ein bestimmtes Ereignis, dann gibt es eine große Form von Aufmerksamkeit dafür, und dann ist das Thema wieder verschwunden. Auch das offizielle staatliche Gedenken kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in Deutschland gesellschaftlich große Probleme haben und wir am Anfang und nicht am Ende der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah stehen. Antisemitismus liegt eine Grundvorstellung zugrunde, nach der Jüdinnen und Juden als außerhalb der Gesellschaft begriffen werden. Das heißt, sie werden von Antisemiten zum „Anderen“ gemacht.

Dem müssen wir entgegenwirken, indem wir Judentum als völlig selbstverständlichen Bestandteil der deutschen Gesellschaft begreifen. Im nächsten Jahr gibt es das Jubiläum 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, verbunden mit dem 350-jährigen Jubiläum der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Es wird viele Aktivitäten aus der jüdischen Community geben und die Frage wird dann sein, in welcher Breite es gelingt, Solidarität herzustellen.

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