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Aynur Hatun Sürücü wurde 2005 in Berlin ermordet. Nur dem jüngsten Bruder konnte die Tat nachgewiesen werden.

© dpa

Zwangsheirat und Ehrenmorde: „Das Umfeld ist das Problem“

Zwangsheirat sowie Drohungen und Gewalt gegen Frauen, die aus dem System ausbrechen wollen, sind verbreitete Phänomene, meint die Neuköllner Gleichstellungsbeauftragte Sylvia Edler. In einem Interview spricht sie über Aufklärung, Prävention – und Jungs, die ebenfalls Angst haben.

Frau Edler, wir haben Ihnen ja im Vorfeld dieses Interviews Passagen aus dem Text über „Amal“ und ihren Freund zugeschickt …
… ja, und ich möchte gleich sagen: Das ist kein Einzelfall. Leider!

Das wollten wir grad fragen: Ist das ein Einzelfall?
Leider nein. Aus meiner Arbeit sind mir die Themen Zwangsheirat und Ehrenmorde bestens bekannt. Zu mir kommen junge Menschen, die meist schon in der Situation „zwangsverheiratet“ sind oder von ihren Familien bedroht werden. Von diesen jungen Menschen erfahre ich dann zum Beispiel, dass sie zum Shoppen oder um sich mit Jungs zu treffen, in komplett andere Bezirke fahren müssen.

In der Hoffnung, dass sie nicht gesehen werden.
Ja, wenn man eine große Familie hat, besteht immer die Gefahr jemandem Bekannten zu begegnen und damit entdeckt zu werden. Die Mädchen sind leider gezwungen, durch viel Kreativität und Einfallsreichtum ihre Freiheit zu gestalten. Manche sind allerdings sogar so eingeschränkt, dass sie nach der Schule direkt nach Hause müssen.

All das erfahren Sie in Ihren Sprechstunden?
Dass sich junge Mädchen nicht frei bewegen können, wird mir auch von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern der Jugendprojekte zugetragen. In Neukölln haben wir fünf, die ausschließlich nur für Mädchen sind. Darauf sind wir sehr stolz, die enge Zusammenarbeit mit diesen Einrichtungen ist mir deshalb sehr wichtig. Glücklicherweise haben die Familien meist nichts dagegen, wenn die Mädchen diese Einrichtungen besuchen.

Können Sie uns konkrete Zahlen nennen?
Nicht aus meiner Arbeit. Aber laut Kriminalstatistik aus dem Jahr 2011 gab es in Neukölln 1 261 Meldungen von häuslicher Gewalt, darunter fallen auch Delikte wie Ehrenmord und Zwangsheirat.

Wo muss Ihre tägliche Arbeit ansetzen: bei den Müttern, den Vätern, der Community?
Überall. Wir sind in Neukölln gut aufgestellt. Wir haben Gewaltpräventionsprojekte für Mädchen und Frauen, die Heroes und die Männergruppe von Kazim Erdogan, in denen die Themen Häusliche Gewalt und Gleichberechtigung behandelt werden. Auch ich versuche meinen Teil dazu beizutragen, indem ich zum Beispiel die Stadtteilmütter zu diesen Themen beschule.

Gibt es Projekte, auf die Sie besonders stolz sind?
Einen Anfang haben wir 2008 mit der Ausstellung von Terre des Femmes „Im Namen der Ehre“ gemacht. Wir haben Schulen gezielt angeschrieben und für den Besuch der Ausstellung geworben. Zur Neuköllner Konzeption gehörten speziell abgestimmte Führungen für Schulklassen sowie anschließende Gruppendiskussionen. Insgesamt nahmen 449 Schülerinnen und Schüler und Auszubildende an den Führungen teil. Im Jahr 2005 haben wir bereits auf das Zwangsheiratsphänomen mit einer eigenen Webseite reagiert, auf der sich Betroffene anonym beraten lassen konnten. Insbesondere in Schulen sehe ich für Lehrkräfte, Sozialarbeiter und Erzieher aber weiteren Sensibilisierungsbedarf.

Wie genau bemerkt man eigentlich als Lehrerin, dass man es mit einem Problemfall zu tun hat?
Die Zensuren werden schlechter, die Hausaufgaben werden nicht mehr abgegeben. Familienmitglieder warten vor der Schule. Jungs sind da auch betroffen. Auch die fürchten die Sommerferien, weil sie sie da in der „Heimat“ verheiraten werden könnten.

Männer sind gleichermaßen betroffen?
Grundsätzlich schon. Jungen wie Männer haben aber einen anderen Bewegungsradius. Es ist keine Schande, wenn Männer fremdgehen. Aber wenn die Frau fremdgeht – oh weh!

Gibt es angesichts dieser Umstände überhaupt Jungen, die aus diesen Verhältnissen ausbrechen wollen?
Selbstverständlich. Es kommt immer darauf an, was zu Hause vorgelebt wird. Grundsätzlich gilt aber: Es ist derzeit sehr wichtig, viel mit Jungs zu arbeiten, und zwar nicht nur mit denen mit Migrationshintergrund, sondern auch mit Deutschen. Sie alle sind auf der Suche nach ihrer Rolle in einer Gesellschaft, in der das Alleinernährerprinzip schon allein finanziell längst nicht mehr funktioniert. Es ist schwierig für sie, sich da zurechtzufinden.

Im Angesicht der Tradition ist es für Jugendliche aus Gemeinschaften, in denen sogenannte arrangierte Ehen üblich sind, wahrscheinlich trotzdem noch etwas schwieriger als für andere, sich zurechtzufinden.
Ja, gerade wenn es um Zwangsheirat geht. Das Umfeld ist das Problem. In einem dramatischen Fall, der mir bekannt ist, haben Vater und Mutter gar nichts zu sagen. Da ist das Familienoberhaupt der Onkel. Es ist ein extremes Beispiel, in dem ein Mädchen von Zwangsheirat bedroht ist und fliehen musste. Wir stellten fest: Ja, die Familie ist offen, aber das Umfeld ist es nicht.

Ob sich die Brüder von Amal, um die es in dem oben stehenden Text geht, also tatsächlich so verhalten wollen, wie sie es tun, ist zweifelhaft?
Ja, das würde ich sagen. Viele Jungen sind in einem Zwiespalt. Ihnen wird die Rolle des Beschützers der Schwester zugedacht. Aber sie sagen: Ich lebe frei, ich kann mich frei bewegen, warum soll meine Schwester das nicht dürfen?

Mit Geschwisterliebe haben Unterdrückung oder sogar Mord ja auch wirklich nicht viel zu tun. Kann die Justiz da helfen?
Urteile wie kürzlich im Fall der ermordeten Jesidin Arzu Ö. haben auf jeden Fall Signalwirkung!

Die junge Frau wurde 2012 in Detmold Opfer eines „Ehrenmordes“.
Und alle Beteiligten sind verurteilt worden! Die Geschwister, der Vater, der Mutter droht ebenfalls eine Strafe. Bei dem Mord an Hatun Sürücü in Berlin 2005 konnte nur dem jüngsten Bruder etwas nachgewiesen werden, sonst ist nicht viel passiert.

Und Bildung, die so oft als Schlüssel und Lösung aller Integrationsprobleme genannt wird?
Gewalt an sich, in all ihren verschiedenen Formen, ist kein ethnisches Problem und keines der Unterschicht. Bildung allein löst diese Probleme sicher nicht automatisch.

Melden sich bei Ihnen auch viele interkulturelle Paare, wie in unserer Geschichte?
Ja. Das ist bei einem multikulturellen Bezirk wie Neukölln auch ganz natürlich. Ich nehme die Ängste und Befürchtungen dieser jungen Paare immer sehr ernst und begleite sie über einen längeren Zeitraum.

Es muss eine große Liebe sein.
Sie muss so stark und gefestigt sein, dass sie den Paaren Kraft gibt, all die damit zusammenhängenden Gefahren durchstehen zu können. Ein Pärchen, das ich in eine Schutzeinrichtung vermittelt habe, ist auch nach Jahren immer noch zusammen. Aber man merkt, dass es schwierig ist – ihre Liebe wird auf eine harte Probe gestellt.

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