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Protest der Initiative Wahlrecht für Alle auf dem Tempelhofer Feld.

© imago/Christian Mang / imago stock&people

„Wir sind stummgeschaltet“: 23 Prozent der volljährigen Berliner dürfen am Sonntag nicht wählen

Wer nur einen ausländischen Pass besitzt, darf am Sonntag nicht wählen. In manchen Orten in Berlin betrifft das über 40 Prozent der Einwohner. Doch es gibt Bestrebungen, das zu ändern.

„Dass ich nicht wählen darf, hat mich vom ersten Tag an gestört“, sagt Sanaz Azimipour. Inzwischen lebt die 30-jährige aus dem Iran stammende Autorin und Aktivistin seit sieben Jahren in Deutschland. Doch an den Wahlen hier darf sie immer noch nicht teilnehmen – weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. „Wir sind strukturell stummgeschaltet“, sagt sie.

Mit „wir“ meint sie die Gruppe der Berlinerinnen und Berliner, die nicht wählen dürfen, weil sie keinen deutschen Pass besitzen. Die Gruppe ist groß: 23 Prozent der über 18-Jährigen, die in der Stadt leben, haben nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Das geht aus Daten der Einwohnerregisterstatistik hervor, die der Mediendienst Integration zusammengetragen hat. Die Zahl liegt deutlich über dem bundesdeutschen Durchschnitt von 14 Prozent.

Insgesamt gibt es über 3,1 Millionen volljährige Berliner. 744.915 von ihnen dürfen bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus nicht wählen, weil sie keinen deutschen Pass besitzen. Etwa 190.000 von ihnen sind EU-Bürger – sie dürfen also zumindest bei den BVV-Wahlen ihre Stimme abgeben. Doch rund 554.000 Personen – über eine halbe Millionen Stadtbewohner – dürfen weder auf Bezirks- noch auf Landesebene an der Wiederholungswahl am Sonntag teilnehmen.

Sieht ein Demokratiedefizit: Elif Eralp, LInken-Abgeordnete.
Sieht ein Demokratiedefizit: Elif Eralp, LInken-Abgeordnete.

© William Minke

Viele von ihnen sind schon lange in Deutschland oder hier geboren. Über 365.000 der über 20-jährigen Berliner – die Altersgruppe ab 18 wird statistisch nicht gesondert ermittelt – leben hier seit mehr als zehn Jahren. Die größte ausländische Community sind Menschen mit türkischem Pass, die zweitgrößte Menschen aus Polen.

In einigen Berliner Bezirken ist der Anteil von Menschen ohne deutschen Pass besonders hoch: In Mitte sind es etwa 38 Prozent, in Friedrichshain-Kreuzberg etwa 32 Prozent, in Neukölln 29 Prozent.

Die Berliner Abgeordnete Elif Eralp (Linke) spürt die Auswirkungen davon in ihrem Wahlkreis deutlich. Sie vertritt die Menschen rund um das Kottbusser Tor, den Graefe- und Wrangelkiez. Ihr Team hat mithilfe der Einwohnerstatistik den Anteil von Anwohnern mit ausländischem Pass für die Stimmbezirke ihres Wahlkreises ermittelt.

Es ist ein massives Demokratiedefizit, wenn so viele Menschen der Berliner Bevölkerung nicht repräsentiert sind.

Abgeordnete Elif Eralp (Linke)

„Rund um den Kotti liegt der Anteil bei 45 Prozent – das ist fast jeder Zweite“, sagt sie. Beim Tür-zu-Tür-Wahlkampf habe sie zum Teil auch fast an jeder zweiten Tür, die geöffnet wurde, mit Menschen ohne Wahlrecht gesprochen. Sie sei der Meinung, dass das verwehrte Wahlrecht bei den Leuten zu Politikverdrossenheit führe.

Und die Abgeordnete sieht ein weiteres Problem: „Es ist ein massives Demokratiedefizit, wenn so viele Menschen der Berliner Bevölkerung nicht repräsentiert und ihre Anliegen nicht vertreten sind.“ Eralp betrifft das Thema auch im engsten familiären Kreis: Ihr eigener Vater, der seit 40 Jahren in Deutschland lebt, darf nicht wählen.

Die Abgeordnete engagiert sich für das Wahlrecht für alle Menschen, die seit fünf Jahren in Deutschland leben, ohne weitere erforderliche Kriterien. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will die Einbürgerung nach fünf Jahren ermöglichen sowie das Recht auf ein doppelte Staatsangehörigkeit erweitern. Die FDP hat die Pläne allerdings kritisiert, sie befürchtet eine Entwertung der Staatsbürgerschaft. Das Vorhaben stockt.

Derzeit können Menschen, die seit acht Jahren in Deutschland leben, die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Bei besonderen Integrationsleistungen geht es nach sechs Jahren. Zudem müssen weitere Kriterien erfüllt werden, etwa Deutschkenntnisse sowie ein ausreichendes Einkommen vorgewiesen werden. Ihre vorherige Staatsbürgerschaft müssen die Antragsteller in der Regel aufgeben.

Das wollen viele jedoch nicht, aus unterschiedlichsten Gründen. Darunter sind nicht nur emotionale, sondern auch ganz praktische. Eralp etwa berichtet von einer älteren Dame, die ihre türkische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben will, weil sie sonst ihre türkischen Rentenansprüche verliere.

Wahlrecht für alle ist die Forderung

Das Berliner Abgeordnetenhaus hat sich im vergangenen Dezember für ein von der Staatsangehörigkeit unabhängiges Wahlrecht für Berliner ausgesprochen, die seit mindestens fünf Jahren in der Stadt leben. Das Vorhaben steht auch im Koalitionsvertrag von SPD, Grüne und Linke.

Der Antrag im Abgeordnetenhaus ging auch auf die Volksinitiative „Demokratie für alle“ zurück. Die Aktivistin Azimipour hat diese Volksinitiative gemeinsam mit anderen ins Leben gerufen. Sie setzt sich für das Wahlrecht für alle ein, die seit mindestens drei Jahren in Deutschland sind, sowie für die Herabsenkung des Wahlalters für die Abgeordnetenhauswahlen auf 16.

Azimipour sagt, insbesondere Menschen ohne deutschen Pass hätten es schwer, eine Wohnung zu finden oder seien prekären Arbeitsbedingungen ausgeliefert.

„Du bist von den Umständen betroffen, wirst aber von der politischen Teilhabe ausgeschlossen.“ Sie selbst hat vor dem Hintergrund der Bestrebungen von Rot-Grün-Rot „große Hoffnung“, dass sich in der nächsten Legislaturperiode etwas bewegt. Ob das der Fall sein wird, wird auch maßgeblich von der Wahl am Sonntag abhängen – an der sie nicht teilnehmen kann.

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