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Kinder einer Willkommensklasse

© picture alliance / Britta Peders

Willkommensklassen in Berlin: Nicht alle jungen Geflüchteten kommen im Schulsystem an

Schulwechsel, Sprachprobleme, Traumatisierung: Nicht alle jungen Geflüchteten werden in der Schule integriert. Der Senat steuert mit Angeboten dagegen.

Die Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in die Berliner Schullaufbahn begann im Willkommensjahr 2015 voller Motivation auf beiden Seiten. Und doch gibt es offenbar in der Praxis einige Probleme des Ankommens der jungen Zuzügler aus Syrien, Iran, Afghanistan oder afrikanischen Ländern im deutschen Bildungssystem, wie eine Tagesspiegel-Umfrage ergab. Berichten auch Sie uns von ihren Erlebnissen – die Kontaktdaten finden Sie am Ende des Artikels.

So berichten Flüchtlingshelfer und Pädagogen sogar von einer gewissen Anzahl schulpflichtiger junger Menschen aus Kriegs- oder Krisengebieten, die aus verschiedenen Gründen nicht zur Schule gehen könnten oder wollten. Dies wurde zuletzt auch auf einer Veranstaltung der „Berliner Wirtschaftsgespräche“ offenbar: „Willkommen und dann? – Ein Teil der Jugendlichen kommt nicht im Schul- und Ausbildungssystem an“, war der Titel.

Laut Senatsbildungsverwaltung waren im Schuljahr 2016/17 in Berlin knapp 8250 Kinder aus Willkommensklassen in Regelklassen übergegangen. Anfang September 2018 besuchten laut Statistik 2727 Kinder Willkommensklassen an Grundschulen. Bei Sekundarschulen und Gymnasien waren es 2310 Jugendliche, auf beruflich und zentral verwalteten Schulen 1008 und auf freien Schulen 103 Schülerinnen und Schüler.

Häufiger Schulwechsel wegen Asylverfahren

Mitunter verließen aber Kinder und Jugendliche plötzlich die Schule, meldeten sich nicht ab, oder man wisse nicht, wo sie hingezogen seien. Dies habe auch mit den unvermeidlich häufigen Schulwechseln im Zuge des Asylverfahrens zu tun, sagt Daniel Jasch vom Verein „Komm mit“ vom Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migranten (BBZ). Alles ständig neu: neue Welt, neue Heimat, neue Mitschüler, wenig Stabilität. In der Erstaufnahme im Flughafen Tempelhof werde leider noch nicht beschult. Ältere Jugendliche wiederum hofften auf Wartelisten auf einen Platz an den Oberstufenzentren, sagt Jasch.

Auf der Veranstaltung der Berliner Wirtschaftsgespräche berichteten Betreuer und Pädagogen, dass mitunter hoch motivierte und gebildete Flüchtlinge im Pubertätsalter das Problem haben, dass sie in den wenigen Schuljahren in Deutschland ihre Fähigkeiten, die sie schon im Heimatland erworben haben, nicht zum Ausdruck bringen können. So schnell könne niemand eine andere Schrift, andere Ziffern, andere Schreibrichtung und die Fachbegriffe lernen, um in Kürze einen Abschluss zu erzielen.

Je später die Jugendlichen an die Schule kämen, desto schlechter die Chance, diese mit Abschluss zu verlassen. Und dann gebe es etliche Analphabeten, die im Unterricht alles geben, und froh sind – endlich Bildung. Die teils auf der Flucht traumatisierten Kinder und Jugendlichen bilden sehr heterogene Willkommensklassenverbände. Dies überfordere die nicht immer fachlich ausgebildeten Lehrer. Auch für die hier aufgewachsenen Mitschüler seien Schicksale sehr bewegend, die Lage herausfordernd. „Manche Kinder haben Dinge miterlebt, von denen man niemandem wünscht, dass er sie jemals zu sehen bekommt“, sagt Kathrin Wiencek, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes Berlin-Brandenburg.

Jeden Monat kommen 40 bis 80 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Berlin

Jeden Monat kommen in Berlin rund 1000 zumeist erwachsene Flüchtlinge an, 700 bleiben, die anderen gehen in andere Bundesländer oder Länder. Zumeist kommen sie aus den GUS-Ländern, aber auch aus Afghanistan, der Türkei, Syrien, Vietnam. Zudem erreichen jeden Monat zwischen 40 und 80 minderjährige unbegleitete Kinder und Jugendliche Berlin. Sie sind auf eigene Faust los oder wurden von den Eltern geschickt, sind über Schlepper per Balkanroute oder durch die Flüchtlingslager in Libyen gekommen, oft für den Familiennachzug.

Diese unbegleiteten Jugendlichen werden für das Asylverfahren und die Schulsuche meist vom Amts-, Vereins- oder Ehrenamtsvormund betreut. Darunter sind einige Hundert Ehrenamtliche, die sich aus privatem Antrieb, etwa nach Berichten im Tagesspiegel, engagieren, wie etwa vom Vormundschaftsnetzwerk Akinda. Manchmal haben es Kinder, die mit ihrer Familie nach Deutschland kamen, indes schwerer als die Unbegleiteten. Ihre Eltern wollen nur das Beste für ihre Kinder, verstehen aber weder Deutsch geschweige denn das Behördenformularwesen – an dem schon Deutschsprachige oft scheitern. Elternabende, Hausaufgabenhilfe, keine Chance.

Bei mit ihren Familien gekommenen Kindern und Jugendlichen drehten sich die Rollen oft um, der Nachwuchs übernimmt nach dem Besuch der Willkommensklasse die Elternrolle und übersetzt für Vater oder Mutter, die im Heim auf den Integrationskurs warten. Diese Kinder seien teils überlastet, wie auch die Lehrerinnen und Lehrer an Berliner Schulen von den neuen Anforderungen durch das heterogene Klientel.

Die Bildungsverwaltung steuert seit Jahren mit diversen Angeboten dagegen. In den Bezirken gibt es Koordinierungsstellen für Willkommensklassen, auch für nicht mehr schulpflichtige Jugendliche mit Problemen werden Sprachkurse angeboten, es gibt neue Ansätze des Praxislernens für Flüchtlinge und Fortbildungen für Lehrer. Von einem Mangel an Schulplätzen sei nichts bekannt.

Manche Kinder bleiben auf der Strecke

Daniel Jasch von „Komm mit e.V.“ bemängelt, dass es nicht genügend Kurse zur Berufsvorbereitung etwa für Pflege- und Gesundheitsberufe gebe. Diese seien besonders bei afghanischen Jugendlichen beliebt, auch weil ihnen die Qualifizierung eine Bleibeperspektive böte.

Vielversprechend seien Lehrgänge an Oberstufenzentren zur Berufsqualifizierung, bei denen Sozialarbeiter auch persönliche Probleme aufarbeiten könnten. Mehr Sozialarbeiter und Schulpsychologen wären an Schulen dringend nötig, um posttraumatisch belastete Schüler auffangen zu können, sagen Helfer. Etliche schaffen es dank besonderer Förderung, eigenen Ehrgeizes, hoher Resilienz und Zuwendung dennoch, Klassenbeste zu werden. Und manche überflügeln sogar slangsprechende Mitschüler mit ihrem in einer Pflegefamilie erlernten Hochdeutsch.

Mitunter erlebe man in Klassen aber bei einigen Kindern und Jugendlichen eine schlimme Seelenlage wie bei den Opfern des Zweiten Weltkrieges, sagt Kathrin Wiencek vom Philologenverband. Die Bedingungen an den Schulen seien doch generell nicht optimal, und manche Kinder blieben auf der Strecke.

Selbst einige der hier Sozialisierten würden die schwierige Zeit der Pubertät in der Schule nur mit Mühe schaffen. Viele Familien und die Lehrer seien jedenfalls überfordert. Eine Herausforderung seien auch unterschiedliche kulturelle Prägungen, etwa wenn Mädchen plötzlich nicht mehr in die Schule geschickt würden.

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Viele Berliner haben keinen direkten Kontakt zu Geflüchteten, sofern sie sich nicht in der Flüchtlingshilfe engagieren – und dann aus der anonymen Masse der Menschen durch den persönlichen Kontakt Freundschaften entstehen oder sich gar Wahlfamilien bilden mit liebenswerten, humorvollen Menschen. Woher sie auch kommen, auch diese Kinder und Jugendlichen zocken gerne Fifa an der Playstation, spielen Clash of Clans oder gehen gerne Trampolin springen. Welche Erfahrungen haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit den geflüchteten Klassenkameraden ihrer Kinder? Welche Freundschaften sind entstanden, welche Herausforderungen sind zu bewältigen? Schicken Sie uns Erfahrungen als Eltern, Lehrer, Mitschülerin und Mitschüler, schreiben Sie an: Der Tagesspiegel, Lernen-Seite, Lokalredaktion, Askanischer Platz 3, 10963 Berlin. Oder eine E-Mail an: menschenhelfen@tagespiegel.de, Betreff: Willkommensklasse / Regelklasse. Wir freuen uns auf die Beiträge.

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