zum Hauptinhalt

Berlin: Wilhelm Mann (Geb. 1916)

Fast alle Schanghai-Emigranten reisten weiter. Er blieb

Das Jahr des Drachens. Ein glücksbringendes Zeichen, die Geburt des Kindes trotz des Krieges. Der patriotische Vater gab dem Sohn den Namen des deutschen Kaisers und obersten Kriegsherrn. Wilhelm verlebte eine unbeschwerte Kindheit. Der Vater war Arzt in Mannheim und erzog seine Kinder im streng naturwissenschaftlichen Geist. Religion war für Vorgestrige. „Ob da noch andere jüdische Kinder waren, weiß ich gar nicht. Wir haben immer alle zusammen Sport getrieben.“

Zum Medizinstudium wurde er als Jude nicht zugelassen. Das Studium der Chemie musste er 1938 nach vier Semestern auf Geheiß des Rektors der Universität Heidelberg „zur Vermeidung von Unzuträglichkeiten“ beenden. Der offizielle Stempel enthielt auch den Vermerk: „Über die Führung ist Nachteiliges nicht bekannt“. Im Oktober 1940 wurden die noch verbliebenen Juden der Region gemeinsam mit den Juden aus der Pfalz, Baden und dem Saarland in das Lager Gurs verschleppt. Als Lektüre nahm der Vater ein Buch über Physik mit. Die Vichy-Regierung nannte Gurs ein „Lager mittlerer Härte“ für feindliche Ausländer. Die Eltern überlebten. Die Schwester Irene war bereits nach Italien geflohen, der Bruder August nach Amerika emigriert, Wilhelm bekam ein Visum für Schanghai.

Im März 1939 hatte Sun Ke, der Sohn des Staatsgründers der Republik China Sun Yatsen und Vorsitzender des chinesischen Parlaments, vorgeschlagen, eine „große Anzahl von Juden im Südwesten Chinas“ anzusiedeln, um China in seinem Kampf gegen Japan zu stärken und die vermuteten Reichtümer der jüdischen Flüchtlinge abzuschöpfen.

Die japanischen Invasoren führten einen unbarmherzigen Krieg gegen das Land, über drei Millionen chinesische Soldaten, annähernd zwanzig Millionen Zivilisten starben in den folgenden Jahren. Das Auswandererschiff Victoria erreichte Schanghai im Januar 1939 nach vier Wochen Fahrt. In Schanghai waren noch die Ruinen sichtbar, die japanische Bomben hinterlassen hatten. Bis Ende 1937 war Schanghai eine weltoffene Stadt gewesen, das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Asiens, „Paris des Ostens“, berüchtigt wegen der Opiumhöhlen und der hohen Kriminalität.

Verwirrende Eindrücke: der faulige Geruch des braunen Wassers des Whangpo, das Gedränge der Menschen, Rikschafahrer, Händler, zerlumpte und verstümmelte Bettler und daneben die glänzenden Limousinen. Die feuchten und heißen subtropischen Sommer wechselten mit nasskalten Wintern. Die Kleidung, die Wilhelm trug, wärmte nicht. Jeder lebte hier auf Abruf. Viele litten Not. Aber die schützende Hand des Vaters reichte weit, Wilhelm bekam Geld überwiesen, erhielt eine Stelle beim Roten Kreuz und machte sich mit einem Freund auf den Weg ins Hinterland, dorthin, wo sich Armee und Verwaltung zurückgezogen hatten.

Im Herbst 1939 erreichten die beiden nach einer 3000 Kilometer langen Reise Guiyang, die Hauptstadt der Provinz Guizhou. Guiyang heißt übersetzt „Sonne ist teuer“. „Und den Namen trägt der Ort nicht umsonst. Es hat viel geregnet.“

Wilhelm Mann trug fortan die khakifarbene Uniform des Sanitätsdienstes der nationalchinesischen Armee. Er wurde in chinesischer Währung bezahlt und erhielt monatlich 120 Yuan. Nicht viel Geld. Aber er musste keinen Hunger leiden und er konnte als Wissenschaftler arbeiten.

„Alles haben wir selbst gemacht“, erzählte er seiner Biografin Ulrike Unschuld, „Glasgeräte, Pipetten, Büretten hinten mit Millimeterpapier drangeklebt, Stative … alles selbst gemacht. Und Wasser zum Kühlen haben wir in einem Topf oben auf den Labortisch gestellt, an Stelle der Gasflamme eines Bunsenbrenners haben wir eine Flamme mit Alkohol hergestellt.“

Der handgestrickte Pullover, den seine Mutter aus London schickte, half gegen das Heimweh und wärmte.

„Es gab unheimlich viele Ratten, größer als Katzen, und Wanzen. Die saßen da in den Holzlöchern. Wir nahmen die Betten auseinander und behandelten sie mit kochendem Wasser. Aber das nützte nichts. Wenn ich morgens die Augen öffnete, und zu meinem Moskitonetz hochblickte, war es schwarz vor Wanzen. Die Ratten rannten an der Decke entlang, wir nannten das ‚Die Wilde Jagd’.“

Die Armee benötigte ständig neue Soldaten. Nicht nur wegen der hohen Verluste durch Kriegshandlungen, sondern weil viele Soldaten unterernährt waren und Epidemien zum Opfer fielen. Eine Einberufung war oft gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Und so versuchte jeder, der irgendwie Geld besaß, sich freizukaufen.

Die Soldaten besaßen ungenügendes oder gar kein Schuhwerk, die Hosen waren nicht selten von Durchfall durchweicht. Konnte einer nicht weiterlaufen, dann ließ man ihn liegen. Um die Schwachen und die Leichen kümmerten sich die Hunde.

„Wenn man hinausschaut, ist es wunderschön, alles bedeckt mit Schnee, und während ich schreibe, beginnt es wieder zu schneien. Ich habe nun so oft auf die schneebedeckten Fichten gesehen. Es lässt mich zurückdenken an die Zeit, als wir zum Schilaufen im Schwarzwald waren. Es ist guter Schnee, ein wenig zu feucht für die Schier. Ich habe ihn in meine Hand genommen und ihn getestet, genauso, wie ich es früher gemacht habe. Ich könnte Dir sagen, welches Wachs man benutzen müsste. Aber es ist nicht derselbe Schnee.“

Fast alle der 20 000 Emigranten reisten nach dem Krieg weiter. Wilhelm Mann blieb. Trotz Heimweh. „Ich war ein anderer Mensch geworden.“ Seine Arbeit wurde dringend gebraucht. Lange hatte man gegen die Pest in China nur Feuerwerkskörper eingesetzt, um die bösen Geister zu verjagen. Das sollte sich ändern. „Es herrschte eine unglaubliche Aufbruchsstimmung, ein starkes China aufzubauen.“ Die Wissenschaftler wurden umworben. Das Gehalt war gut, dreimal so viel wie ein Arbeiter bekam. Das Institut stellte auch ein Bett und einen Schreibtisch mit Stuhl zur Verfügung. Wilhelm Mann verliebte sich, heiratete Yang Yuanzhu, die Kollegen schenkten Rollbilder auf glücksverheißendem, rotem Papier.

Der große Sprung in die Zukunft. Er misslang. In der Kulturrevolution wurden das alte Denken, die alte Religion und Kultur vernichtet. Die Labore geschlossen. Jeder der Konterrevolution verdächtigt. „Und dann bin ich also zu diesem Kollegen, dem Parteisekretär, bin wütend zu ihm gegangen und hab’ gesagt: Was ist da los? Und dann hat er zu mir gesagt, Dein Lebenslauf ist so einwandfrei!“ Verdächtig einwandfrei. Plötzlich war er wieder ein Fremder.

„Ich fühle mich immer noch als Deutscher“, hatte er schon vor Jahren an seine Schwester geschrieben, „und ich will dorthin zurückkehren, auch wenn alles in Ruinen daliegt. Ich würde gerne wieder in Heidelberg studieren.“

Am 30. März 1955 wandte Wilhelm Mann sich an die Botschaft der DDR in Peking mit der Bitte, ihm die Staatsbürgerschaft der DDR zuzuerkennen und ihm einen Pass auszustellen. Die Einreise in die BRD wäre leichter gewesen, aber er wollte nicht zurück in ein Land, in dem Karrieren möglich waren wie die seines Namensvetters: Wilhelm Rudolf Mann, Vorstandsmitglied der I.G. Farben, Mitwisser der Gräuel in den Konzentrationslagern und nach dem Krieg Verkaufsleiter bei der Bayer AG.

1961 reiste Wilhelm Mann erstmals von Schanghai nach Europa. Er besuchte über Weihnachten seine Mutter, die allein in London lebte. Als sie wenige Jahre später todkrank wurde und 1972 in London starb, durfte er sie nicht mehr besuchen. Da war er bereits Bürger der Deutschen Demokratischen Republik.

Ende August 1966 bestieg er den Zug von Schanghai nach Peking. Seine Frau blieb in Schanghai zurück. Sie erhielt keine Ausreisegenehmigung, und die Ehe wurde bald darauf behördlicherseits geschieden.

Das letzte Mal war Wilhelm Mann 1937 in Berlin gewesen. Die Hauptstadt der DDR erschien ihm jetzt verlassen und leer. Er erhielt eine Stelle im neu geschaffenen Institut für Mikrobiologie. Als er in seinem schlichten chinesischen Anzug das erste Mal das Institut betrat, fragte ihn der Hausmeister, ob er es sei, der sein Nachfolger werden wolle.

Der Name, den chinesische Freunde für ihn gewählt hatten, lautete Meng Weilian, „stark und aufrecht wie der konfuzianische Philosoph Meng“. „Ich hatte immer ein Ziel“, sagte er im Rückblick, „auch wenn es sich auf direktem Weg nicht erreichen ließ. You banfa – Es gibt immer einen Weg.“ Wilhelm Mann fand eine neue Liebe, konnte als Wissenschaftler arbeiten, fühlte sich heimisch – und doch nicht daheim. Die Dankesworte, die er auf seinem Sterbebett an seine Freunde richtete, sprach er auf Chinesisch. Gregor Eisenhauer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false