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Eiskalt: Eine Berlin-Szene aus dem vergangenen Dezember.

© Imago / Stefan Zeitz

Verwirrte, Verpeilte, Verweigerer: Wieso Berliner auch bei Frost kurze Hosen tragen

Entsetzen, Neid, Respekt - das empfindet unser Kolumnist angesichts des Trends zu Shorts auch an kalten Tagen. Und er hat drei Träger-Typen identifiziert.

Eigentlich bin ich mit dieser Kolumne ein wenig zu spät dran. Denn zu diesem Zeitpunkt, kurz vor Mai, wenn der April endlich nicht mehr macht, was er will, sondern was er soll und was man von einem ordentlichen Frühlingsmonat eigentlich erwarten könnte - also Sonnenstunden satt produzieren -, fällt ER nicht mehr besonders auf. Denn wenn es draußen warm ist, machen es auch viele andere. Da wirkt ER nicht mehr so deplatziert.

Aber in den kalten Monaten von Oktober bis März, wenn Berlin nicht mehr ganz so gut verbergen kann, dass es nur einen Wehrmachtseinmarsch von Russland entfernt ist, da fällt das Phänomen auf. Da fällt ER auf!

Ja, fragen Sie mich ungeduldig und zu Recht, wer ist ER? Ich verrate es Ihnen: Es gibt in Berlin IMMER eine Person, die kurze Hosen trägt. Egal, wie kalt es ist. Das ist ER!

Wenn man nur lange genug durch die Stadt spaziert, kann man ihn wirklich zu jeder Jahreszeit entdecken. Ein kalter Februartag? Egal. Minus zehn Grad mit Ostwind im Dezember? Egal. Schneesturm mit Hagel bei überfrierender Nässe und Orkanböen? Egal! Es wird jemanden geben, der kurze Hosen trägt. Immer.

Stoisch trotz er den Temperaturen und lässt sich nicht anmerken, dass er frieren muss - es sei denn, er hat beheizte Adern. Ich schaue ihn in einer Mischung aus Entsetzen, Neid und Respekt an und frage mich: Was sind das für Menschen? Ich denke, es sind vor allem drei Typen.

Manche können einfach nicht anders

Erstens: der Verwirrte. Seien es Drogen, Alkohol - daher vielleicht auch die beheizten Ader - oder auch eine psychische oder körperliche Krankheit. Manche Menschen sind einfach ein wenig mehr verwirrt als andere. Über sie werde ich hier keine Scherze machen. Sie haben es schon schwer genug und ehrlich gesagt, es gab Situationen in meinem Leben, in denen ich auch eher zu ihnen gehört habe.

Tagesspiegel-Kolumnist Peter Wittkamp.
Tagesspiegel-Kolumnist Peter Wittkamp.

© Peter von Felbert

Zweitens: der Verplante. Dieser Typ klingt zwar ähnlich wie der Verwirrte, ist aber gänzlich von ihm zu differenzieren. Der Verplante wäre durchaus in der Lage, sich einigermaßen adäquat zur Wettervorhersage zu kleiden, er hat es nur nicht so sehr auf dem, nun ja, Schirm. Fast alle von uns kennen einer dieser Verplanten. Es ist der, der immer zwei Tage zu spät zum Geburtstag gratuliert, dem immer etwas „dazwischenkommt“.

In meiner Vorstellung trägt er, wenn er mal Hosen trägt, lange weite Hosen oder direkt Cargo-Beinkleider. Oder eben kurze Hosen. Manchmal auch einfach das letzte Exemplar, das nicht seit vier Wochen in der Waschmaschine liegt und mittlerweile leicht flaumig angeschimmelt ist.

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Er trägt auch gerne eine Glatze oder Dreadlocks, weil es die Frisuren sind, um die man sich am wenigsten kümmern muss. Er ist sympathisch verpeilt. Es ist ein netter Typ, aber er kann sich einfach nicht merken, dass es manchmal sinnvoll sein kann, aus dem Fenster zu schauen, bevor man das Haus verlässt.

Klassiker: Ein Mann in kurzen Hosen am Hackeschen Markt.
Klassiker: Ein Mann in kurzen Hosen am Hackeschen Markt.

© IMAGO / Jürgen Ritter

Draußen angekommen friert er zwar in seiner kurzen Hose, aber noch mal zurückzugehen und sich umzuziehen, ist ihm viel zu mühsam. Außerdem sind alle andere Hosen ja seit vier Wochen in der feuchten Waschmaschine und haben dort mittlerweile vermutlich Sars-CoV-3 erzeugt. Dann halt kurze Hose. Wird sicher keinen beim Vorstellungsgespräch stören.

Er will ein Statement setzen

Der dritte Typ: der Verweigerer. Er ist noch einmal deutlich von dem Verwirrten und dem Verpeilten zu unterscheiden. Die beiden anderen wollen eigentlich gar keine kurzen Hosen tragen, er hingegen schon. Es ist der Unangepasste!

Ihm ist es vor allem wichtig, anders zu sein. Wenn alle mit dem Strom schwimmen, schwimmt er dagegen. Der Verweigerer trägt keine Masken, weil es für ihn staatliche Bevormundung ist. Er wählt die AfD, die Linke, die Tierschutzpartei, die Partei der Titanic oder die anarchistische Pogo-Partei. Einfach die, die ihm gerade am meisten „dagegen“ vorkommt. Das heißt, er würde sie wählen, aber Wählen ist ihm eigentlich viel zu sehr Anpassung an das System.

Auch er friert natürlich bei minus zehn Grad in seiner kurzen Hose, aber es ist ihm wichtiger, ein Statement zu setzen. Es gibt nur eine Situation, die ihn dazu bringen kann, sein Vorhaben abzubrechen: Er trifft auf einen Verwirrten oder einen Verpeilten, die ebenfalls kurze Hose tragen.

Dann trottet er beraubt seiner Einzigartigkeit sofort nach Hause - und bleibt dort aus Protest den ganzen Tag. Dort schaut er sich dann die neuesten Videos von Ken Jebsen an und chattet mit Attila Hildmann auf Telegram. Nackt.

Peter Wittkamp ist Werbetexter und Gagschreiber. Er ist derzeit Hauptautor der „Heute Show Online“ und hat die Kampagne #weilwirdichlieben der Berliner Verkehrsbetriebe mit aufgebaut. Ab und zu schreibt er ein Buch, publiziert bei Instagram als Peter_Wittkamp oder twittert unter dem leicht größenwahnsinnigen Namen @diktator. Peter Wittkamp lebt mit Frau und Kind in Neukölln. Im Tagesspiegel beleuchtet er alle 14 Tage ein Berliner Phänomen.

Peter Wittkamp

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