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Issam Hajjar bewahrt die Erinnerung an Syrien in Bildern. Hier steht er vor einer Karte von Aleppo.

© Sven Darmer

Wie Syrien einmal ausgesehen hat: Ein Archivar bewahrt das Kulturerbe eines zerstörten Lands

Wegen des Bürgerkriegs kam Issam Hajjar aus Damaskus über Kairo und Istanbul nach Berlin. Als Archivar bewahrt er die Erinnerung an Kulturstätten seines Heimatlandes – viele davon sind zerstört.

Rund 2800 Kilometer trennen den 47-jährigen Issam Hajjar von seiner syrischen Heimatstadt Damaskus. Hier im neunten Stock eines Bürogebäudes, gleich am Bahnhof Zoo, übernimmt Hajjar eine wahre Herkulesaufgabe für sein Heimatland: Zusammen mit sieben weiteren Kollegen archiviert er Fotos von Monumenten, Moscheen und Ruinen, genauso wie von Zitadellen und antiken Heiligtümern. Die Fotos stammen von Archäologen, Fotografen, Instituten und Privatpersonen aus der ganzen Welt.

Die Bilder zeigen das Kulturerbe eines Landes, in dem seit bald zehn Jahren ein Krieg tobt. „Künftige Generationen sollen mithilfe der Fotosammlungen eine Idee davon bekommen, wie Syrien früher einmal ausgesehen hat“, erklärt Hajjar, kariertes Hemd, kräftige Statur, in flüssigem Englisch. „Das ist eine große Verantwortung – wir müssen immer darauf achten, die abgebildeten Orte richtig zu beschreiben.“

Issam Hajjar arbeitet als Archivar für das sogenannte „Syrian Heritage Archive Project“, was frei übersetzt so viel heißt wie „Archiv für das Syrische Kulturerbe“. Dieses kulturelle Gedächtnis gibt es seit 2013 und residiert nun in einem Berliner Büro, das einen dunkelgrauen Teppichboden hat und dessen Fenster den Blick auf den Großen Tiergarten freigeben. Die Finanzmittel für das Archiv-Projekt stammen vom Auswärtigen Amt, das über die weitere Finanzierung jedes Jahr neu entscheidet.

Für das Projekt werden Zehntausende Fotos syrischer Kulturstätten digitalisiert und stammen von etwa 60 Sammlungen ab. Die Projektleute, syrischer und deutscher Herkunft, bekommen Fotos von Monumenten in die Hände, die es zum Teil nicht mehr gibt: Der Krieg in Syrien hat Stätten wie die antike Oasenstadt Palmyra und andere Monumente verwüstet oder zerstört – und es ist nicht abzusehen, wann der Krieg und damit auch die anhaltenden Zerstörungen des Kulturerbes ein Ende finden.

Eine Postkarte aus dem 20. Jahrhundert zeigt den Marjeh-Platz in Damaskus.
Eine Postkarte aus dem 20. Jahrhundert zeigt den Marjeh-Platz in Damaskus.

© Sinan Recber

Dass Hajjar einmal als Archivar in Berlin arbeiten würde, statt sich der Denkmalpflege in Damaskus zu widmen, wäre für ihn undenkbar gewesen. Schließlich hat er schon mit 16 Jahren leidenschaftlich seine Heimatstadt fotografiert. Die erste Berührung mit Deutschland hatte Hajjar im Jahr 1996: Damals lernte er in Damaskus Stefan Weber kennen, den Direktor des Berliner Museums für Islamische Kunst.

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Von Damaskus über Kairo und Istanbul nach Berlin

Wie Hajjar und Weber mehr als 18 Jahre später wieder Kontakt zueinander fanden, dazu später mehr. Um die Jahrtausendwende war der Krieg in Syrien noch weit weg. Zu der Zeit studierte Hajjar Wirtschaft in Damaskus, dokumentierte jedoch bereits Damaskus und das Umland mit der Kamera.

Im Jahr 2002 begann Hajjar in der damaszenischen Niederlassung des „Französischen Instituts für den Nahen Osten“ als Denkmalpfleger zu arbeiten. Der Krieg brach 2011 über Syrien herein, ein Jahr später ging Hajjar ins ägyptische Exil nach Kairo. „Ich habe meine Zeit im Exil dafür genutzt, die Kulturlandschaft von Kairo zu dokumentieren“, sagt Hajjar. Weil Kairo ähnlich wie Damaskus ein islamisches Erbe mit Hunderten Denkmälern habe, sei das Heimweh nicht ganz so groß gewesen.

„Nach eineinhalb Jahren bin ich von Kairo nach Istanbul weitergezogen und habe dort ebenfalls die Kulturlandschaft dokumentiert.“ Im Mai 2015, noch vor dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise, ergriff Hajjar eine einmalige Chance: Stefan Weber vom Museum für Islamische Kunst fragte ihn, ob er für das Museum und das Archiv-Projekt in Berlin arbeiten möchte.

In der Oase von Palmyra: Der Tempel des Gottes Baal, bevor er vom sogenannten Islamischen Staat gesprengt wurde.
In der Oase von Palmyra: Der Tempel des Gottes Baal, bevor er vom sogenannten Islamischen Staat gesprengt wurde.

© Eugen Wirth/Museum für Islamische Kunst, Berlin

Hajjar nahm das Angebot an. Seine Reise führte ihn von Istanbul weiter nach Berlin. Seit 2015 lebt er mit seiner Frau, seiner 14-jährigen Tochter und seinem 17-jährigen Sohn in der Hauptstadt. Doch das Leben im Exil hat seinen Preis: Hajjar hat nicht nur seine syrische Heimat verloren. Er hat, anders als noch in Kairo und Istanbul, auch die Fähigkeit verloren, die Gebäude, die Gebetshäuser und Denkmäler in seiner Umgebung einzuordnen.

Der Blick aus dem Berliner Bürofenster zeigt Kirchtürme, die in den Horizont ragen. Auch die Siegessäule ist zu sehen, wo die goldene Borussia an die preußischen Siege im 19. Jahrhundert erinnert. „Hier ist alles anders – ich kann zum Beispiel fast nichts über die Architektur und Geschichte der Kirchen in Deutschland sagen.“ Hajjar ist in Berlin zu einem Denkmalschützer ohne Denkmäler geworden. Ihm bleibt nur die Archivierung von Fotos aus seiner weit entfernten Heimat in Syrien.

„Wir können Syrien nicht vergessen“

„Natürlich hatte ich Glück mit dem Jobangebot in Berlin. Ich kenne viele hoch ausgebildete Syrer, die in Restaurants arbeiten.“ Zwar habe er die deutsche Sprache gelernt, seine Sprachkenntnisse seien mittlerweile auf dem Level B1, das eine „selbstständige Sprachverwendung“ bei vertrauten Themen bescheinigt. Aber das Leben im Exil sei trotz allem ein Unglück.

„Meine Familie und ich sind immer noch wie erstarrt. Wir können Syrien nicht vergessen. Wir hoffen immer noch, dass wir eines Tages zurückkehren können.“ Dennoch fühlt sich Hajjar willkommen in Deutschland. „Ich mag die Vielfalt und die Toleranz von Berlin. Meine Frau trägt ein Kopftuch, und sie hat in den fünf Jahren bis auf ein oder zwei Zwischenfälle keine negativen Erfahrungen in der Stadt gemacht.“

 Die Umayiadenmoschee von Damaskus über dem Häusermeer der historischen Altstadt – bevor der Krieg ausbrach.
Die Umayiadenmoschee von Damaskus über dem Häusermeer der historischen Altstadt – bevor der Krieg ausbrach.

© Issam Hajjar, 2007

Die Kinder in Deutschland zu erziehen, sei jedoch nicht so einfach wie gedacht, sagt Hajjar. „Zurzeit begrenze ich die Internetnutzung meines Sohnes. Er sagt jedoch, wenn er erst mal 18 sei, könne er tun, was er wolle.“ Ein solches Konzept – volljährig werden und dann tun, was man will – gebe es in Damaskus nicht. „Nur weil mein Sohn 18 Jahre alt wird, heißt das zum Beispiel nicht, dass er rauchen und mir seine Zigarettenschachtel vor die Nase auf den Küchentisch legen darf.“

Außerdem kann Hajjar nicht verstehen, wieso in Berlin anscheinend jeder das tun dürfe, wonach ihm gerade ist. „Für mich hat es zum Beispiel nichts mit Freiheit zu tun, wenn jemand im Bus die Beine hochlegt und mit seinen dreckigen Schuhen die Sitze beschmutzt.“ Ein solches Verhalten kenne er zumindest nicht aus Damaskus, seiner Heimatstadt, in die er eines Tages vielleicht zurückkehren kann.

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