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Bis 1915 befand sich im heutigen Volkspark Wilmersdorf noch der Wilmersdorfer See. Mit einem Seebad, wo donnerstags ab dem frühen Abend die Post abging. Im Hintergrund die Auenkirche.

© Waldemar Titzenthaler - Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 Nr. II3420

Amüsemang und dunkle Winkel: Wie Berlin zur Metropole wurde

Hans Ostwald beschrieb das Berlin der Kaiserzeit in all seinen Facetten. Nun hat Thomas Böhm diese „Großstadt-Dokumente“ neu herausgebracht.

Auch beim Spaziergang in die Vergangenheit sollte die Sonne scheinen, und das tut sie über alle Maßen. Der Volkspark Wilmersdorf erstrahlt spätsommerfrisch. Jogger traben vorbei, hier werden Blumenrabatten gepflegt, dort in der schattigen Senke übt man sich in Tai Chi, auf den Spielplätzen treffen die Kinder ein. Von rechts gedämpft der Lärm der Bundesallee, aus Richtung Mecklenburgische hin und wieder der dumpfe Schlag, wenn ein Fußballschuh auf rundes Leder trifft. Im Hintergrund über der Baumreihe und den davon verborgenen Wohnblocks ragt der Turm der Auenkirche.

Die stand schon Anfang des vorigen Jahrhunderts dort. Gäbe es – man darf sich das ja mal vorstellen – eine Spezialbrille, die uns per Virtual Reality ins Leben von damals eintauchen ließe, fänden wir uns in einer völlig anderen, geradezu ländlichen Szenerie wieder. Keine Spur von Wohnblocks in Berliner Traufhöhe, statt einer Senke der Wilmersdorfer See, an dessen südöstlichem Ufer das Berliner Leben brodelt, Amüsemang so recht nach Bolles Geschmack.

Das heißt, eigentlich müsste es früher Abend sein und ein Donnerstag, denn da geht es im Seebad Wilmersdorf – oder bei Schramms, wie alle nur sagen – besonders hoch her, strömen die Amüsierlustigen gleich rudelweise vom Ringbahnhof Wilmersdorf-Friedenau, heute Bundesplatz, zum nahen See: „Im Saal ein dichter Kranz von Tanzenden. In der Glut des Sommerabends – der Hitze, die diese vielen bewegten Körper ausstrahlen, und dem Staub, den sie mit scharrenden Füßen und fliegenden Röcken aufwirbeln. Rundherum um einen dicken Herrn im Frack, den ,Tanzmeister’.“

Und erst das Feuerwerk: „Tausende von Menschen standen da unten am Ufer des moorigen Wasserlochs. Dicht zusammengedrängt unter den dunklen Bäumen, deren Zweige von unten hell durchleuchtet wurden.“

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Virtual Reality? Brauchen wir nicht für solch eine Zeitreise. Nicht solange es Bücher gibt wie „Berlin. Anfänge einer Großstadt“, prall gefüllt mit „Szenen und Reportagen 1904 – 1908“, eine von dem Journalisten Thomas Böhm erstellte Textauswahl aus dem von Hans Ostwald Anfang des vorigen Jahrhunderts initiierten Buchreihen-Projekt der ungeheuer erfolgreichen „Großstadt-Dokumente“. Insgesamt 50 Bände à 100 Seiten, professionell beworben, erschwinglich im Preis, rund 300 000 mal verkauft. Eine Bestseller-Reihe, die ursprünglich auch Wien behandeln sollte, als traditionsreiche Kulturhauptstadt gegenüber dem noch etwas parvenühaften Berlin – das gelang nur in Ansätzen.

Nur noch eine leichte Senke erinnert im Volkspark Wilmersdorf an den 1915 dort zugeschütteten See. Im Hintergrund der Turm der Auenkirche.

© Andreas Conrad

Hans Ostwald? Den kannte er vorher auch nicht, gibt Böhm unumwunden zu. Erst in der Staatsbibliothek, wo er über das alte Berliner Nachtleben recherchierte, wies man ihn auf Band 1 der Reihe hin: „Dunkle Winkel in Berlin“. Eine Initialzündung.

„Dunkle Winkel“? Ein Titel, der das Programm der Reihe schon im Kern enthält. Es waren nicht immer dunkle, doch mit Vorliebe unbekannte, dem Normalsterblichen verschlossene Winkel und Lebensräume Berlins, die Ostwald dem Leser zu öffnen suchte. Den Menschen im Kaiserreich, nicht zuletzt vielen Berlinern selbst, war die dank der französischen Reparationszahlungen nach dem Krieg 1870/71 reich gewordene Reichshauptstadt – jäh zur Metropole aufgestiegen, zu einem „European Chicago“, wie Mark Twain befand – unübersichtlich, unbegreifbar, ja unheimlich geworden. Ein urbaner Moloch, dessen Einwohnerschaft 1902 sogar die Zwei-Millionen-Grenze geknackt hatte. Prostitution? Organisiertes Verbrechen? Homosexualität? Man hatte davon gehört, aber was wusste man schon? Oder ein Galopprennen in Hoppegarten, ein Tanzvergnügen bei Schramms in Wilmersdorf oder bei Tante Brunch in der Jägerstraße, die Tricks der Falschspieler, das je nach Tageszeit zwischen quirligem Konfektionshandel und schillerndem Nachtleben changierende Treiben um den Hausvogteiplatz – wo sonst konnte man darüber schon etwas erfahren?

Auch voyeuristische Bedürfnisse wurden bedient

Ostwalds „Großstadt-Dokumente“ versprachen da Aufklärung aus sicherer Distanz, boten Orientierung in dem als labyrinthisch empfundenen Metropolenleben, bedienten gewiss auch voyeuristische Bedürfnisse, all dies aber mit großer Sachkenntnis – dies zeichnete seine Reihe vor ähnlichen, journalistischen Versuchen aus. Auch früher schon hatten sich Reporter in „dunkle Winkel“ begeben, mussten sich die Sachkenntnis aber erst kurzfristig aneignen, mit begrenztem Kontakt zu der Szene, über die sie berichteten. Ostwald, von dem nur fünf der 50 Bände stammen, beauftragte dagegen Männer – ja, bis auf die Schriftstellerin Ella Mensch, die über „Bilderstürmer in der Berliner Frauenbewegung“ schrieb, waren es ausnahmslos Männer –, die hohe Sachkenntnis besaßen, ihre Klientel persönlich kannten und deren Vertrauen genossen. Keine Flaneure also, die scheinbar ziellos durch die Stadt schlendern und ihre zufälligen Beobachtungen notieren, sondern zielgerichtet auf ihr Thema, ihren besonderen Ausschnitt aus dem Großstadtleben zusteuernde Analytiker.

Der Journalist Hans Ostwald um 1897

© Promo

Als Rahmen setzte Ostwald den „Großstadt-Dokumenten“ prophetisch das Groß-Berlin von 1920, und nichts wurde darin ausgespart: Weder das mondäne Leben in den Clubs, die nicht heutiger Clubkultur entsprachen, sondern dem traditionellen englischen Vorbild folgten, als Treffpunkte der feinen Gesellschaft; noch das mühselige Leben einer armen Alten, die sich Morgen für Morgen zur Zentralmarkthalle schleppt, um dort von den Wagen der Händler herabgefallene, gerade noch verzehrbare Abfälle aufzuklauben; noch die Straßenarbeit der „Trinkerrettungsbrigade“ der Heilsarmee, der sich Magnus Hirschfeld – von ihm stammte auch der über die Reihe hinaus bekannt gewordene Band „Berlins drittes Geschlecht“ – eine Nacht lang anschloss und deren Arbeit er würdigte, „mit aufrichtiger Sympathie für diese Samariter, deren ehrlichen Willen, mögen ihre Zeremonien und Anschauungen uns auch in vieler Hinsicht widerstreben“.

Nach der Goldschmied-Lehre ging Ostwald zu den Vagabunden

In den 50 Bänden spiegelten sich die gesellschaftlichen Gegensätze der Wilhelminischen Gesellschaft, mit sozialem Impetus pointiert herausgearbeitet, mitunter um Reformvorschläge ergänzt – der Kontrast zwischen Reichtum und Armut, zwischen der feinen Gesellschaft und ihren Außenseitern. Zu denen hatte auch Ostwald eine Zeitlang gehört, als er sich nach einer Goldschmied-Lehre Landstreichern anschloss – und seine Erfahrungen in dem Roman „Vagabunden“ niederschrieb.

Auch wurde er Mitarbeiter der 1895 gegründeten Zeitung „Welt am Montag“, lernte dort viele seiner künftigen Autoren kennen, entwickelte die für die „Großstadt-Dokumente“ typische Arbeitsweise und deren Stil, eine „Mischung aus Journalismus, Wissenschaft und ein wenig Literatur“, wie Thomas Böhm es beschreibt. Es sind sehr genaue Milieustudien, dank ausgefeilter Stenotechnik mit vielen wörtlichen Zitaten im breitesten Berlinerisch oder auch mal in der Ganovensprache, dabei mitunter, aber stets sehr authentisch, ins Fiktionale übergreifend. Beim detailreich beschriebenen Anbandeln eines Jünglings bei Schramms Tanzvergnügen konnte Ostwald kaum stets in Hörweite gewesen sein.

Hans Ostwald: Berlin. Anfänge einer Großstadt. Szenen und Reportagen 1904 -1908. Herausgegeben und eingeleitet von Thomas Böhm, Galiani Berlin, 416 Seiten, 28 Euro. Lesungen mit Thomas Böhm: 24. September, 19.30 Uhr, Theater Expedition Metropolis, Ohlauer Straße 41 in Kreuzberg; 26. September, Kulturkirche St. Matthäus, beim Literaturtag von „Paradies Berlin“; 1. Oktober, 19 Uhr, Dussmann, Friedrichstraße 90

© Promo

In den Texten sieht Böhm einen Widerschein des Naturalismus und zugleich einen Vorläufer von Döblins Romanklassiker „Berlin Alexanderplatz“, der ohne die „Großstadt-Dokumente“ kaum denkbar sei. Teilweise seien sie zudem von erstaunlicher Aktualität: etwa das darin geschilderte Unvermögen der Stadt, hinreichend Wohnraum zu schaffen; oder die zähe Arbeitsweise der Behörden, die für ihre Amtshandlungen alle Zeit der Welt zu haben scheinen.

Und allemal findet Böhm es zu Recht spannend, ein Berlin beschrieben zu sehen, in dem viele heutige Strukturen, der Clubszene etwa, des Rotlichtmilieus oder der Gastronomie, entstanden seien, das aber ganz oder bis auf wenige Spuren verschwunden sei.

Seebad Wilmersdorf? Es gibt ja nicht mal mehr einen See

So können die „Großstadt-Dokumente“ wie auch die von Thomas Böhm überzeugend getroffene Auswahl geradezu als historischer Stadtführer dienen. Man nehme nur den Abschnitt über den Tanzabend bei Schramms und spaziere jetzt durch den Volkspark Wilmersdorf und das sich südlich anschließende Viertel. Kein See zu sehen, nirgends, nur die flache, sich parallel zur Straße Am Volkspark entlangziehende Senke lässt ihn noch erahnen. Also auch keine Tanzhalle, aber seit 1896 ehrt die Schrammstraße den Gründer des Seebads Wilmersdorf, Otto Schramm, Sohn eines durch Landverkäufe reich gewordenen „Millionenbauern“.

Und auch beim Bau des als Schrammblock bekannten, denkmalgeschützten Wohnkomplexes, 1925 bis 1930 am ehemaligen Südufer entstanden, erinnerte man sich an den im Berliner Nachtleben einst so berühmten Mann, der 1902 starb und nahe seines einstigen Seebads beigesetzt wurde: „Schramm Garagen“ steht an den beiden Zufahrten der Anlage, eine der ersten Großgaragen Berlins. Das Seebad gab es bei ihrem Bau schon lange nicht mehr: 1915 hatte man den Wilmersdorfer See zugeschüttet.

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