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Carl Brunmayr muss sein Atelier in Spandau verlassen. 

© Robert Klages

"Waterkant Berlin" vernichtet Gewerbehöfe: Künstler will trotz Räumungsbescheid nicht gehen

2500 Wohnungen entstehen an der Havel. Dort widersetzen sich noch letzte Gewerbetreibende der Räumung. Ein Künstler muss alle Werke verkaufen.

Rund einhundert überwiegend junge Leute folgen den Kreidepfeilen, die vor dem U-Bahnhof Haselhorst auf den Boden gemalt sind. Vorbei an Lagerhallen, die gerade abgerissen werden und halbfertigen weißen Neubauten, die in der Dämmerung mit weißem Flutlicht bestrahlt werden. Bagger und Abrissbirnen warten auf den nächsten Morgen. 

Hier entsteht „Waterkant Berlin“, das „Leuchturmprojekt“ der Immobiliengesellschaften Gewobag und WBM mit rund 2500 Wohnungen direkt am Havelufer. „Wohnraum, den Berlin so dringend braucht“, sagte Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) beim Richtfest im Februar, an dem auch Spandaus Bürgermeister Helmut Kleebank (SPD) teilnahm.

Maritimes Flair versprechen riesige Visualisierungen mit Familien auf Dachterrassen. Die jungen Leute laufen darunter her in einen Gewerbehof in der Rhenaniastraße 9 – 17 und nehmen auf umgedrehten Plastikmülleimern Platz. Das „Hit und Run“-Kino zeigt „besondere Filme an besonderen Orten“. 

Auf der improvisierten Leinwand läuft eine Dokumentation über einen verrückten Künstler, dessen Werke erst nach seinem Tod gefunden wurden. Auch vor Ort lebe ein Künstler „zwischen halb fertiger Kunst und den Resten seines kreativen Lebens“, hatte das „Hit and Run“-Kino angekündigt.

Zehn Mietparteien widersetzen sich der Räumungsfrist

Auf dem Gelände stehen feuchte Holzschuppen, rostige Maschinen, überwucherte Gehwege – und Räume voll mit Kunst. Düstere Gemälde von Menschen und Szenen, auf Holz oder Leinwand. Der Künstler Carl Brunmayr ist einer von zehn Mietern, die das Gelände der Gewobag noch nicht verlassen haben obwohl eine Räumungsfrist Ende Juni verstrichen ist. Auch hier in der Rhenaniastraße soll „Waterkant Berlin“ entstehen. 

So soll es an der Havel in Spandau bald aussehen: "Waterkant Berlin" mit 2500 Wohnungen. 
So soll es an der Havel in Spandau bald aussehen: "Waterkant Berlin" mit 2500 Wohnungen. 

© Gewobag

Brunmayr ist groß, laut und erzählt viel. Er malt, seit er 13 Jahre alt ist. Nun wisse er nicht, wohin mit seinen Bildern. Die Gewobag habe ihm einen Container bereitgestellt, aber seine Kunst sei doch kein Müll. Erst kürzlich habe er alle Bilder, die er in diesem Jahr gemalt habe, für 500 Euro an einen Privatmann verkauft. „Mir blutet das Herz. Aber was soll ich machen?“

Er zeigt ein Portfolio mit Portraits. Darunter die im letzten Jahr verstorbene Filmlegende Artur Brauner. Dessen „CCC Filmkunststudios“, in denen früher Filme mit Romy Schneider und jüngst die Netflix-Serie „Dark“ produziert wurden, befinden sich ebenfalls in Haselhorst. Tochter Alice Brauner ist nun Geschäftsführerin. Auch auf dem Nachbargrundstück der Filmstudios wird für „Waterkant Berlin“ gebaggert. 

Abrissarbeiten haben bereits begonnen

Zudem müssen in der Rhenaniastraße 35 unter anderem eine Schreinerei, eine Schlosserei, ein Imkerei-Fachhandel und ein Gartenmöbelhandel der Waterkant weichen. Rund 100 Menschen haben bereits ihre Jobs verloren. Die Gewobag teilte auf Nachfrage mit, man habe wie geplant mit den Abrissarbeiten in der Rhenaniastraße begonnen. „Wir haben in den letzten Jahren zahlreiche Gespräche mit den Gewerbetreibenden geführt und unterstützen sie selbstverständlich auch weiterhin bei der Suche nach entsprechenden Ersatzflächen in unserem Bestand.“ 

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Zu den Streitigkeiten mit Brunmayr möchte sich die Gewobag „aus Datenschutzgründen“ nicht äußern. Auch nicht dazu, wann geräumt werden soll und wie viele Räumungsversuche es bisher gegeben hat. Die Coronakrise habe keine Auswirkungen auf die Durchsetzung der Räumungspflicht.

König Wilhelms Pulverfabrik: kontaminierter Boden?

Die Spandauer FDP teilt mit, die Flächennutzung sei noch nicht rechtskräftig beschlossen. „Es kann nicht sein, dass hier Existenzen ohne Not vernichtet werden. Wohnungsbau ist auch uns wichtig, aber nicht zu Lasten des Gewerbes.“ Stadtrat Gerhard Hanke (CDU) sagt, ein Verbleib der Gewerbetreibenden könne ausschließlich auf Landesebene entschieden werden. Zudem handele es sich um privatrechtliche Vertragssituationen, ein Eingriff der Bezirkspolitik sei ausgeschlossen.

Bis 1918 testete die „Königliche Preußische Gewehrfabrique“ von „Soldatenkönig“ Kaiser Wilhelm I. Kanonen auf dem Gelände. Später siedelte sich ein Getränkeabfüller an. Bald malte Brunmayr hier Bilder, neben seiner Beschäftigung als Hausmeister und Schweißer für die rund 20 Mieterinnen und Mieter auf dem Gewerbehof. Er fertigte Edelstahlbilder, hatte Ausstellungen. „Ich habe mal ganz nobel gelebt“, lacht er. „Aber ich habe gedacht, ich sei der Größte und Beste.“

Einmal sei ein Arzt zu seiner Vernissage gekommen. Der wollte aber nicht etwa die Bilder kaufen, sondern die Edelstahlregale, auf denen diese standen. Brunmayr hatte auch diese selbst gefertigt. Der Arzt gab Brunmayr 6000 Mark und platzierte seine Burmester Stereoanlage darauf. 

Daraufhin meldeten sich immer mehr Leute, die ebenfalls Regale kaufen wollten. Brunmayr gründete eine Möbelfirma – er sagt, er sei damit sehr erfolgreich gewesen. Die Werkstatt befindet sich noch auf dem Gelände in der Rhenaniastraße. Als die Gewobag das Gelände vor einigen Jahren kaufte, hätten sie ihm gesagt, er werde bleiben können, man brauche ihn als Hausmeister.

Brunmayr erinnert sich an Männer in Ganzkörperschutzanzügen, die Bodenproben entnommen hätten, es sei lange her. „Hier kann niemand wohnen“, hätten sie gesagt, „Quecksilber.“ Die Gewobag bestätigte auf Nachfrage, dass Maßnahmen zur Erkundung von Schadstoffbelastungen durchgeführt wurden. Es ließen sich demnach „keine Werte feststellen, die unserem Bauvorhaben vor Ort entgegenstehen“.

„Dann habe ich dem Anwalt etwas gedroht, das gebe ich zu“

Brunmayr brachte Kameras auf dem Gelände an, weil er Diebstahl vermutete und dies beweisen wollte. Das habe der Gewobag nicht gefallen. Es kamen Anwälte und verlangten, er solle das Gelände räumen, es kam zum Rechtsstreit. Er sei der Geldwäsche verdächtigt worden, erzählt Brunmayr. Und wegen nicht gezahlten 50 Euro Steuern sei sein Konto gesperrt worden. Der Anwalt, der ihn vertreten hatte, habe plötzlich 70.000 Euro von ihm verlangt. „Dann habe ich dem Anwalt etwas gedroht, das gebe ich zu.“ Niemand verlasse die Erde lebendig, habe er zu ihm gesagt.

Am 31. Dezember drohte die erste Zwangsräumung. Sein ehemaliger Anwalt habe plötzlich mit der Gewobag zusammengearbeitet. Brunmayr ging zum Sozialamt. Eine Frau sei vorbeigekommen, mit Sicherheitspersonal, und hätte zum Beispiel gesagt, er sei nicht mittellos. Er könne seine Bilder verkaufen, oder seine 13 Fahrräder. Es handelte sich um Schrotträder, die er aber trotzdem für 100 Euro zusammen verkaufen könnte.

Eine Lagerhalle im Spandauer Ortsteil Haselhorst wird abgerissen.
Eine Lagerhalle im Spandauer Ortsteil Haselhorst wird abgerissen.

© Robert Klages

Seit 36 Jahren wohnt Brunmayr in Charlottenburg. In Spandau waren immer sein Atelier und Arbeitsplatz. Seine Wohnung zahlt mittlerweile das Sozialamt, ausstehende Mieten kann er in Raten abbezahlen. Brunmayr fällt er in seinen Erzählungen durch beleidigende und antisemitische Aussagen auf. „Ich muss die Juden nicht lieben, aber die sollen mich in Ruhe lassen.“ Sein ehemaliger Anwalt sei Jude gewesen, und die von der Gewobag auch.

„Klar bin ich verrückt“, sagt Brunmayr. Die Gespräche mit dem Psychiater seien immer gut gewesen. Er sei derzeit im Grunde am Ende. Aber er werde weitermalen und solange in Spandau bleiben, wie es geht. „Es muss sich keiner Sorgen machen, es geht immer weiter, von einem Monat zum anderen. Eines Tages bin ich ein großer Künstler.“ Am nächsten Morgen beginnen die Bagger wieder mit den Abrissarbeiten. 

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