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Seit der Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes sind nur wenige Projekte auch auf Berlins Straßen umgesetzt worden.

© imago images / Klaus Martin Höfer

Ein Jahr Berliner Mobilitätsgesetz: Warum Berlins Verwaltung mit der Verkehrswende nicht vorankommt

Vor rund einem Jahr feierte sich Berlins Koalition für das Mobilitätsgesetz. Doch die Euphorie war verfrüht. Was schon passiert ist und wo die Probleme liegen.

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So eine Party hatte das Berliner Abgeordnetenhaus lange nicht gesehen. Am 28. Juni 2018 knallten auf dem Vorplatz des Parlaments die Sektkorken, Mitglieder der Grünen-Fraktion lagen sich in den Armen. Anlass für den Jubel war die Verabschiedung des Berliner Mobilitätsgesetzes, das erste seiner Art in der Bundesrepublik.

Einen „Meilenstein der Berliner Verkehrspolitik“ hatte die damals noch parteilose und mittlerweile grüne Verkehrssenatorin Regine Günther es genannt und erklärt: „Dieses Gesetz wird Berlin zum Guten verändern. Es wird Berlin sicherer, sauberer, leiser und klimafreundlicher machen, mit einem Wort lebenswerter.“

13 Monate später ist die Euphorie der Ernüchterung gewichen, bei den Koalitionspartnern von SPD und Linken und selbst bei den Grünen. Wie bereits im Vorfeld gemutmaßt, stellt sich die Umsetzung eines der zentralen Vorhaben der rot-rot-grünen Koalition – der Paradigmenwechsel weg von der Vorrangstellung des Autoverkehrs hin zu einer prioritären Behandlung von Bus-, Bahn-, Rad- und Fußverkehr – als Aufgabe dar, der die Berliner Verwaltung derzeit nicht gewachsen zu sein scheint.

Von der oppositionellen CDU als „Verkehrt-Senatorin“ verschmäht, muss sich Regine Günther zunehmend auch aus den eigenen Reihen Kritik gefallen lassen. Jüngster Anlass ist die Anfrage des SPD-Abgeordneten Sven Kohlmeier – selber Teil der rot-rot-grünen Koalition – zum Stand der Umsetzung des Mobilitätsgesetzes.

Was ist auf den Straßen passiert?

Bisher gibt es fünf mit Pollern geschützte Radwege: 450 Meter beidseitig der Holzmarktstraße, 1100 Meter an der Hasenheide, 300 auf der einen und 600 Meter auf der anderen Seite des Dahlemer Wegs, 620 Meter auf beiden Seiten der Karl-Marx-Straße und 450 Meter einseitig am Mehringdamm. Außerdem 7,7 Kilometer grün gefärbte Radstreifen in 2018, bis Ende 2019 sollen weitere 18 Kilometer hinzukommen.

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Dem Gesetz nach sollten im ersten Jahr nach Inkrafttreten zehn gefährliche Kreuzungen umgebaut werden. Das ist laut Verwaltung auch passiert. Nach dem Tod einer Radfahrerin wurden zum Beispiel sogenannte „Leit-Boys“ an der Kreuzung Kolonnenstraße/Hauptstraße aufgestellt. An der Mollstraße/Otto-Braun-Straße sollen getrennte Ampelphasen für Radfahrer und motorisierten Verkehr kommen. 20 weitere Unfallhäufungsstellen sollen bis Mitte 2020 verkehrssicherer gemacht werden.

„Es ist völlig klar, dass wir die Stadt noch nicht umgebaut haben“, sagt Jan Thomsen, Sprecher der Verkehrsverwaltung. „Dafür werden wir zehn Jahre brauchen.“ Die Fahrradstaffel, die laut Gesetz „sukzessive ausgebaut“ wird, hat ihren Zuständigkeitsbereich am 3. Juni neben Mitte auf den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ausgedehnt. Damit decken nun 20 Dienstkräfte zwei Bezirke ab. Für den Doppelhaushalt 2020/2021 wurden weitere Stellen angemeldet.

Wobei hakt es?

Bei so ziemlich allem. Das gibt die Berliner Verkehrsverwaltung selbst zu: „Das Berliner Mobilitätsgesetz enthält eine Vielzahl von Festlegungen, für deren Umsetzung weder Prozesse und Verfahren noch klare Aufgabenzuständigkeiten feststehen“, antwortet Staatssekretär Stefan Tidow (in Vertretung) auf die Anfrage Kohlmeiers. Viele Ziele des Gesetzes können nicht in der selbst gesetzten Zeit eingehalten werden.

So sollte der Senat bis Juli 2019 einen Plan für ein stadtweites Netz aus sicheren, bequemen Verbindungen vorlegen. Das Radverkehrsnetz soll in allen Teilen Berlins insbesondere Wohngebiete, Arbeitsstätten, Bildungsstätten, Einkaufsgelegenheiten, kulturelle, soziale und Gesundheitseinrichtungen, Sportzentren und Erholungsgebiete verkehrlich miteinander verknüpfen. Ein detaillierter Entwurf aus der Zivilgesellschaft (ADFC, BUND, VCD und Changing Cities) liegt seit Oktober vor, der Senat hat aber Anfang des Jahres ein Ingenieurbüro damit beauftragt. Status: „Noch in der Planung“.

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Unklar ist, ob der Radverkehrsplan, nach Angaben der Verkehrsverwaltung „das entscheidende Dokument für die Radinfrastruktur“, wie geplant bis Juli 2020 fertig wird. Er soll wichtige Details wie die Breite und Oberfläche von Radwegen regeln und zudem festlegen, wann welche Maßnahmen fertig werden müssen. Der Beteiligungsprozess soll noch bis Anfang 2020 gehen. Dann werde ein Entwurf erstellt, heißt es.

Im März hatten die wichtigsten Radverkehrsverbände ADFC und Changing Cities die Verhandlungen mit dem Senat abgebrochen, sie kritisierten die mangelnde Beteiligung der Zivilgesellschaft und ein Verschleppen des Plans, der ursprünglich mit der Verabschiebung des Gesetzes fertig sein sollte.

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Auch der bauliche Zustand des Radverkehrsnetzes wurde – anders als festgeschrieben – bisher nicht erhoben. Das bundesweit gültige Regelwerk, das den Zustand der Fahrbahnen erfasst, könne nicht einfach so für Radverkehrsanlagen übernommen werden, teilt der Senat mit. Da sei das Bundesverkehrsministerium gefragt. „Ein Termin kann hierfür noch nicht genannt werden.“

Ebenso wenig ermittelt wurde bislang das Sicherheitsempfinden von Radfahrern. Die BVG kann außerdem immer noch nicht selbst Falschparker auf Busspuren abschleppen, obwohl das längst beschlossen ist. Der Grund: „Verzögerung im Zeitplan durch nötige Abstimmungen zwischen den Verwaltungen und der BVG“ . Auch das Mängelregister für Radwege gibt es bisher nicht.

Was ist mit der Vision Zero?

Vom Ziel, die Zahl der schwerverletzten und getöteten Unfallopfer auf ein Minimum zu reduzieren (Vision Zero), ist Berlin weit entfernt. Allein im vergangenen Jahr zählte das Land 8021 Unfälle mit Beteiligung von Radfahrern (siehe Grafik), deutlich mehr als 2017 (7111). Elf Radfahrer starben 2018 auf Berlins Straßen, in diesem Jahr waren es bereits vier.

Wie setzen die Bezirke das Gesetz um?

Sehr unterschiedlich. Einige Bezirke sind aus Sicht des Senats sehr erfolgreich bei der Neuverteilung des Straßenraums (weniger Platz für Autofahrer, mehr für Radfahrer). Dazu zählen Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln und Steglitz-Zehlendorf. Andere weniger.

Reinickendorf hat 2018 aus den für den Radverkehr relevanten Haushaltstiteln 117.775,74 Euro abgerufen. In Friedrichshain-Kreuzberg waren es 1.398.570,64 Euro – also beinahe zwölfmal mehr. Damit bildet Reinickendorf das Schlusslicht unter allen Bezirken, Friedrichshain-Kreuzberg liegt ganz vorn. Reinickendorf hat im Gegensatz zu den meisten anderen Bezirken auch noch nicht die beiden Stellen für die bezirkliche Radverkehrsplanung besetzt, die das Land finanziert.

Der Bezirk verweist als Begründung auf die schwierige Personalgewinnung, da die Bezirke schlechter bezahlen als Land, Bund oder viele Unternehmen. Teilweise verlangsamt das Mobilitätsgesetz auch bestehende Planungen: Der seit 2010 geplante Radweg in der Weddinger Müllerstraße muss aufgrund der neuen Anforderungen teilweise neu konzipiert werden. Baubeginn frühestens Sommer 2021.

Wie reagiert die Politik?

Von der Opposition wird Günther scharf angegangen. Der CDU-Verkehrsexperte Oliver Friederici erklärte, das Mobilitätsgesetz verdiene seine Namen nicht, die Verwaltung Günthers sei „nach der herzlosen Entlassung ihres ehemals schwer kranken Staatssekretärs nur noch beschränkt handlungsfähig.“

Tatsächlich dürfte der krankheitsbedingte Ausfall des im Dezember in den einstweiligen Ruhestand versetzten Verkehrs-Staatssekretärs Jens-Holger Kirchner die Umsetzung des Mobilitätsgesetzes zusätzlich verlangsamt haben. FDP-Verkehrspolitiker Henner Schmidt sagte: „Viele wichtige Ansätze des Mobilitätsgesetzes sind noch gar nicht umgesetzt, das Gesetz steht größtenteils nur auf dem Papier.“

Kritisiert wird Günther auch aus der eigenen Partei. Harald Moritz, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion, erklärte: „Allgemein kann man sicher nicht zufrieden sein mit der Umsetzung des Gesetzes.“ Mit Blick auf die Statistik sagte er: „Wir wollen mehr Radfahrer, nicht mehr Unfälle.“

Dass die kritische Anfrage zum Mobilitätsgesetz vom Koalitionspartner SPD kommt, nannte Moritz „bezeichnend“. Er wertete den Schritt als Versuch, „sich selbst in Position zu bringen“. Tatsächlich gilt der Digitalisierungsexperte Kohlmeier als Kritiker des Gesetzes. Er kommentierte die Antworten der Verwaltung mit den Worten: „Ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Mobilitätsgesetzes zeigt sich, dass die Verkehrssenatorin mehr Anstrengungen unternehmen muss. Sie bemüht sich, öffentlichkeitswirksam Pollerradwege in Mitte oder Kreuzberg einzuweihen, das reicht aber nicht aus. Die Sicherheit von Radfahrern muss in allen Bezirken gewährleistet werden.“

Und die Zivilgesellschaft?

Die ist empört. Ragnhild Sørensen, Sprecherin des Vereins Changing Cities, der den Volksentscheid Fahrrad vorbereitet und das Mobilitätsgesetz so maßgeblich mitgestaltet hatte, warf dem Senat vor, ihm fehle die Bereitschaft, klare Zuständigkeiten und eindeutige Ziele zu formulieren.

Zur Vielzahl der Unfälle mit Radfahrern sagte Sørensen: „Vision Zero bekommt man nicht auf dem Silbertablett serviert.“ Die Sicherheit der ungeschützten Verkehrsteilnehmer müsse bei jedem Planungsschritt erste Priorität haben, „das hat die Verwaltung noch nicht kapiert“. Sie fügte hinzu: „Der Lernprozess des Senats ist teuer – letztes Jahr kostete er elf Radfahrende das Leben.“

Frank Masurat, Landesvorsitzender des ADFC, kommentierte die Antworten der Verwaltung: „Solche Phrasen sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen“. ADFC-Sprecher Nikolas Linck, ergänzte, Berlin verschlafe die Verkehrswende – trotz Mobilitätsgesetz.

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