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Der Angeklagte, ein mutmaßlicher früherer KZ-Wachmann (links), und sein Anwalt Stefan Waterkamp warten im Gerichtssaal im Januar auf den Beginn der Verhandlung (Archivbild).

© dpa/Monika Skolimowska

Update

Wachmann im KZ Sachsenhausen: 101-Jähriger wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Haft verurteilt

Seit einem halben Jahr steht ein mutmaßlicher KZ-Wachmann in Brandenburg/Havel vor Gericht. Nun ist das Urteil gegen den 101-jährigen Angeklagten gefallen.

Der Angeklagte hat bis zuletzt alles bestritten. Josef S. will das nationalsozialistische Konzentrationslager Sachsenhausen nie betreten haben, nie durch das Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ gegangen sein, nicht mit der Waffe in der Hand die Flucht der Häftlinge verhindert haben.

Das Landgericht Neuruppin sah es aber als erwiesen an, dass der heute 101-Jährige als Wachmann in Sachsenhausen Beihilfe zum Mord an mehreren tausend Menschen begangen hat. In einem der letzten NS-Prozesse in Deutschland wurde Josef S. am Dienstag zu fünf Jahren Haft verurteilt. Josef S. dürfte der älteste Angeklagte sein, der jemals vor einem bundesdeutschen Gericht stand. Das Verfahren fand aus Rücksicht auf seine Gebrechlichkeit in einer zum Gerichtssaal umfunktionierten Sporthalle in Brandenburg an der Havel statt, weil S. in der Stadt wohnt. Mehrere Verhandlungstage fielen wegen Krankheit des Angeklagten aus. Der Prozess hatte im Oktober 2021 begonnen.

Achtzig Jahre zuvor, am 23. Oktober 1941, war der damals 20-Jährige im Lager Sachsenhausen angekommen. An diesem Tag wird er in die Waffen-SS aufgenommen. Drei Monate dauert seine Ausbildung, dann beginnt sein Dienst als Wachmann. Josef S. gehört nun zu den „Totenkopf-Verbänden“, die Wachmannschaften haben ihren Namen von dem Totenkopf auf dem Kragenspiegel ihrer Uniform.

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In Sachsenhausen bleibt Josef S. bis Februar 1945, im Jahr zuvor wurde er zum SS-Rottenführer befördert. Seinen Weg konnte die Staatsanwaltschaft Neuruppin aus Dokumenten nachzeichnen, die NS-Bürokratie hatte akribisch Buch geführt. Die Ermittler sind zudem überzeugt, dass Josef S. sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte. Der in Litauen geborene S. gehörte in der Terminologie der Nationalsozialisten zu den „Volksdeutschen“, denen durch freiwilligen Dienst in der Waffen-SS eine schnellere Einbürgerung versprochen wurde.

Der Angeklagte stritt alle Vorwürfe ab

In seinem Schlusswort stritt der Angeklagte alle Vorwürfe ab. „Ich weiß überhaupt nicht, was ich getan haben soll.“ Er wisse auch nicht, warum er auf der Anklagebank sitze. „Ich habe doch gar nichts damit zu tun.“ Er behauptete, in der fraglichen Zeit als Landarbeiter tätig gewesen zu sein.

Die Richter folgten in ihrem Urteil der Staatsanwaltschaft, die fünf Jahre Haft gefordert hatte. Der Angeklagte habe mit seiner Wachtätigkeit die Mordmaschinerie erst möglich gemacht. In Beurteilungen sei festgestellt worden, dass er ein zuverlässiger Wachmann und damit „ein willfähriger Helfer der Täter“ gewesen sei.

Sachsenhausen war nicht nur ein Arbeitslager, sondern einer der Tatorte des nationalsozialistischen Massenmordes. Zehntausende Häftlinge wurden dort getötet – sie wurden erschossen, in der Gaskammer ermordet oder starben an Hunger und Krankheiten. Das 1936 eröffnete Konzentrationslager sollte im nationalsozialistischen Terrorstaat zum Modell für weitere Lager werden.

[Mehr zum Thema auf Tagesspiegel Plus: 100-jähriger mutmaßlicher KZ-Wachmann vor Gericht. Im Räderwerk der Vernichtungsmaschine]

Der SS-Sturmbannführer Gustav Wegner, der das Kommando über die Wachmannschaften in Sachsenhausen hatte und damit Vorgesetzter von Josef S. war, hatte offenbar nach Kriegsbeginn 1939 in Polen an Massenmorden teilgenommen. Diese Erfahrungen Wegners und anderer SS-Männer trugen nach ihrer Rückkehr ins Lager zu einer Entgrenzung der Gewalt bei.

Allein im Herbst 1941 wurden in Sachsenhausen mehr als 12 000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet. Die SS-Männer hatten dafür in einem Raum, der als ärztliches Untersuchungszimmer getarnt war, eine Genickschussanlage eingerichtet. In dem Prozess schilderte der Staatsanwalt genau, wie die arglosen Häftlinge von einem SS-Offizier im weißen Kittel empfangen wurden, wie sie sich unter dem Vorwand, ihre Körpergröße zu bestimmen, an eine Messlatte stellen mussten und dann von hinten erschossen wurden.

All das kann dem jungen SS-Mann Josef S. nicht entgangen sein. Von seinem Posten auf einem der Wachtürme konnte er das Lager gut überblicken. Die Ermittler waren überzeugt davon, dass er auch gesehen haben muss, wie die Leichen der erschossenen oder verhungerten Menschen zum Krematorium transportiert wurden, dass er den Rauch gerochen und die unmenschlichen Bedingungen im Lager wahrgenommen haben muss.

Dass S. noch ins Gefängnis muss, gilt als unwahrscheinlich

Dennoch sei er im Lager geblieben. Das zeige, dass er „an dem von ihm wahrgenommenen Leiden der Gefangenen und deren Sterben nicht wirklich selbst Leiden davontrug“, wie Oberstaatsanwalt Cyrill Klement es formulierte. Josef S. habe sich mit der „Entmenschlichung der Opfer“ abgefunden. In diesem Prozess ging es auch um die Frage, ob einfache Wachleute mitschuldig waren am nationalsozialistischen Massenmord.

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Die deutsche Justiz hatte jahrzehntelang nach dem SS-Wachpersonal in den Konzentrations- und Vernichtungslagern gar nicht mehr gesucht. Verfolgt wurden lange nur diejenigen, denen man einen konkreten Mord nachweisen konnte. Diese Sichtweise änderte sich erst 2011 mit dem Urteil gegen John Demjanjuk, der Wachmann im Vernichtungslager Sobibor gewesen war.

Das Landgericht München war in diesem Fall der Argumentation des Juristen Thomas Walther gefolgt, der in der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen auf den Fall gestoßen war und darauf bestanden hatte, den Tatbestand der Beihilfe zum Mord anzuwenden. Weitere Prozesse gegen ehemalige Wachleute im Vernichtungslager Auschwitz folgten.

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Dass der 101-Jährige S. noch ins Gefängnis muss, gilt als unwahrscheinlich. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Verteidiger Stefan Waterkamp kündigte Revision an. Bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofes kann es dauern. Sollte Josef S. diese noch erleben, müsste festgestellt werden, ob der hochbetagte Mann überhaupt haftfähig ist.

Aus Sicht der 16 Nebenkläger, die an dem Verfahren teilnehmen, steht die Frage, ob Josef S. hinter Gitter kommt, nicht im Mittelpunkt. „Für sie ist von unglaublicher Bedeutung, dass vor einem deutschen Gericht über ihre ermordeten Angehörigen gesprochen wurde“, sagte Walther, der in diesem Verfahren Nebenklage-Anwalt war, dem Tagesspiegel.

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