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Der Oranienplatz in Kreuzberg ist eines der Zentren des Viertels. Wo diese Installation an den Mauerfall erinnert, will Sevim Aydin ein Denkmal für Gastarbeiter:innen errichten lassen.

© imago images/Hoch Zwei Stock/Angerer

Vorschlag von Kreuzberger Bezirkspolitikerin: Am Berliner Oranienplatz soll ein Denkmal für Gastarbeiter entstehen

Die SPD-Politikerin Sevim Aydin fordert eine Erinnerungsstätte für Gastarbeiter in Kreuzberg. Ein Experte erklärt, wie so ein Ort aussehen sollte

International ist der Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg schon lange. Wo früher türkische Supermärkte, Bäckereien und Frühstückscafés waren, passiert man „Coffee Roasters“ und eine „Eatery“. Es ist aber auch ein politischer Ort: Vor einigen Jahren campierten und protestierten dort Geflüchtete, die abgeschoben werden sollten.

Man könnte fast vergessen, wie es dort nach dem Krieg aussah, als verfallende Häuser mit Einschusslöchern die Straßen säumten. Und man könnte fast vergessen, wer den Bezirk damals wieder aufbaute. „Gastarbeiter haben die Häuser und Läden renoviert, die ansonsten abgerissen worden wären“, sagt Sevim Aydin, die Vize-Chefin der SPD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Friedrichshain-Kreuzberg.

Der Ortsteil sei heute nur deshalb so vielfältig, weil Gastarbeiter:innen sich dort niedergelassen hätten. „Aber reden wir dadurch über die Leistung der Gastarbeiter? Eigentlich nicht.“ Deshalb will Aydin jenen ein Denkmal setzen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren nach Berlin kamen. „Sie haben zum Wohlstand in unserem Land beigetragen, gerade ihre Leistung sollte gewürdigt werden.“

Sevim Aydin, die im September ins Abgeordnetenhaus einziehen will, weiß, wovon sie spricht: Ihr Vater kam in den späten 1960ern nach Deutschland, arbeitete zunächst im Bergbau, später bei der Zementfirma Eternit in Berlin.

1978, als Sechsjährige, kam Aydin mit ihrer Mutter und den beiden Geschwistern nach. Sie wuchs in der Kreuzberger Naunynstraße auf, in Laufnähe zum Oranienplatz. Ein Denkmal wäre ein guter Weg, ihrem Vater etwas zurückzugeben, sagt Aydin, selbst, wenn der schon lange tot sei.

Soziologe: Öffentliche Debatte für die Erinnerungskultur wichtig

Ähnliche Vorschläge wie den der SPD-Politikerin gibt es bereits, im niedersächsischen Lehrte etwa oder in Frankfurt am Main. Auch Michelle Müntefering, die Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik, hatte im vergangenen Jahr ein Denkmal für Arbeitsmigrant:innen gefordert.

Sevim Aydin sitzt für die SPD in der BVV Friedrichshain-Kreuzberg.
Sevim Aydin sitzt für die SPD in der BVV Friedrichshain-Kreuzberg.

© Hüseyin Islek

Eine solche öffentliche Debatte ist für die Erinnerungskultur wichtig, sagt Volker Wild. Der Soziologe forscht zu Denkmälern und Erinnerungskultur in Deutschland. „Erinnerung ,arbeitet‘ in den Debatten, die in der Öffentlichkeit geführt werden“, sagt Wild. Dieser Dialog entstünde rund um Denkmäler wie das von Aydin geforderte.

„Sicherlich gibt es Menschen, die Zuwanderung massiv ablehnen, die provoziert ein Denkmal vermutlich“, sagt Wild. Entscheidend sei aber, dass diese Provokation Gespräche in der Gesellschaft auslöse – und damit den Grundstein lege für die Erinnerung an Gastarbeiter:innen im kollektiven Gedächtnis.

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Bisher ist Aydins Vorschlag genau das: ein Vorschlag. Damit das Denkmal tatsächlich kommt, muss er erst von der BVV angenommen werden. Doch ihre Initiative könnte im Wahljahr noch wichtig werden – denn die Idee eines Gastarbeiter:innen-Denkmals steht auch im Wahlprogramm der Bezirks-SPD. Zudem jährt sich im Oktober das deutsche Anwerbeabkommen mit der Türkei zum 60. Mal. Der Vertrag, unterschrieben 1961, sollte Arbeitskräfte nach Deutschland holen.

Heute haben in Berlin mehr als 180.000 Menschen einen türkischen Migrationshintergrund, das sind knapp fünf Prozent der Bevölkerung. Sie würden den Vorschlag begrüßen, erzählt die SPD-Politikerin. Gastarbeiter:innen, mit denen sie gesprochen habe, seien der Auffassung, dass es an der Zeit sei.

Denkmal müsse realitätsgetreu die Geschichte der Gastarbeiter:innen dokumentieren

Das sieht Denkmalforscher Volker Wild ähnlich. Sei das Denkmalprojekt in Kreuzberg erfolgreich, fänden sich anderswo noch mehr ähnliche Projekte. Für die Erinnerungsbildung in der Gesellschaft sei das wichtig, sagt er: „Denkmäler tragen dazu bei, dass sich eine öffentliche Meinung bildet, die nicht durch Vorurteile vernagelt ist.“

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Das funktioniere allerdings nur, wenn diese Orte mehr seien als rein symbolische Kunstwerke. „Natürlich kann die künstlerische Gestaltung ein solches Erinnerungsprojekt stützen. Wichtiger sind aber die Fakten und Argumente“, sagt Wild. Ein Denkmal müsse also realitätsgetreu die Geschichte der Gastarbeiter:innen in Deutschland dokumentieren, beispielsweise mit Infotafeln zur Lebensgeschichte der Menschen, die nach Kreuzberg gekommen sind.

„Gastarbeiter haben enorm zur Entwicklung der deutschen Wirtschaft beigetragen, aber sie sind hier auch auf Klischees, Diskriminierung und Zurückweisung gestoßen“, sagt Wild. „Auch das muss man ansprechen.“

Sevim Aydin möchte das gern am Oranienplatz tun und dort das Gastarbeiter:innen-Denkmal aufstellen. Rund um den Platz stehen Bänke, ein guter Raum für Dialog, an dem Menschen sich aufhalten und ins Gespräch kommen. Seit September 2020 steht dort schon ein anderes Denkmal, eine Stele erinnert an die Opfer von Rassismus und Polizeigewalt. Auf den Bänken ringsum spricht darüber niemand.

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