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Die Kneipe „Magendoktor“ zeigt das zarte Pflaster von Wedding.

© Robert Ide/Tagesspiegel

Vor der Wahl ins Lokal: Wo ist das Herz von Berlin geblieben?

Was denken Menschen in der Kneipe von ihrer Stadt? Im „Magendoktor“ im Wedding erwarten sie nichts von der Politik und helfen sich lieber selbst.

Ach, hör bloß uff! Das sagen die meisten. Hier, wo der Wedding noch erdig und ehrlich ist, wo die frisch gezapfte Molle Schultheiss zweefuffzich kostet, wo Berlin hinter hart zugetaggten Fassaden auch sein zartes Pflaster zeigt. Wenn die Frage nach den Wahlen kommt, die jetzt wiederholt werden, dann bevorzugen die meisten auch beim Reden einen Kurzen: Ach, hör bloß uff!

Berlin ist sein eigener Absacker, immer nur halb und halb

Mitten in der Woche kurz vor Mitternacht gibt es kaum noch ein Durchkommen im „Magendoktor“, einer Alt-Berliner Kneipe, wie sie im Buche der Stadtgeschichte steht. Der dunkel getäfelte Laden am Nettelbeckplatz ist mit Zille-Bildern geschmückt: am Eingang die Stehtische für die Feierabendbiere, an der Bar Hocker zum Quatschen oder Schweigen, eine Couchecke mit Tischen für die Studierendengruppen, hinten Billard und Dart, ein Daddelautomat.

Der “Magendoktor“ in Wedding ist eine Alt-Berliner Kneipe, wie sie im Buche der Stadtgeschichte steht.
Der “Magendoktor“ in Wedding ist eine Alt-Berliner Kneipe, wie sie im Buche der Stadtgeschichte steht.

© Robert Ide TSP

An der Theke sitzen Stammgäste wie Micha, der die „Bild“-Zeitung liest und sein Bier aus der Flasche trinkt. An seinem Eckplatz hat früher ein Mann jede Nacht übernachtet, weil er zu Hause rausgeflogen war. Jahrelang ging das so, dann holte ihn ein Kumpel raus. Die Kneipe ist voller solcher Geschichten, auf alten Werbetafeln steht: Geöffnet Tag und Nacht.

Naja, vormittags ist hier inzwischen Ruhe. Kommt Micha, der schon Rentner ist, eben nachmittags. Er redet nicht viel, guckt sich lieber die Leute an. Draußen auf dem harten Pflaster, von dem der Wedding hier trotz eines neuen Designcafés nebenan (eine Tasse Kaffee für fünf Euro) noch genügend hat, fühlt sich Micha nicht mehr so wohl. Wenn er den vielen rumliegenden Müll sieht, fragt er sich: „Wo ist das Herz von Berlin geblieben?“

Die Wahl ist vielen wumpe

Vor der Wahl ins Lokal. Wer das tut und mit den Menschen über ihre Stadt spricht – mit der Aufback-Frau vom Bahnhof, den Herrengruppen mit Hut und Hund, den vor der Kneipe rauchenden jungen Leuten – , wer also wissen will, welche Wahl die Berlinerinnen und Berliner haben, wird vor allem feststellen: Die Wahl ist vielen wumpe.

Aber dass Berlin sich durch viel Klein-Klein selbst klein macht, das tut allen weh. Bezirke und Stadtstaat, Innenzentrum und Draußenkieze – „dit müsste mal zusammenkommen“, findet eine ältere Frau am Stehtisch. Die Umstehenden nicken. Berlin ist sein eigener Absacker, immer nur halb und halb.

Micha (hinten) und Andre sind Stammgäste am Tresen.
Micha (hinten) und Andre sind Stammgäste am Tresen.

© Robert Ide/Tagesspiegel

„Tja, wen soll’n wa wählen?“ Das hat sich Andre („ohne Strich überm e“) schon zu Hause mit seiner Frau gefragt. Nun sitzt er am Tresen, hat noch die Arbeitsjacke an und viele Fragen im Kopf. Giffey – naja, was hat die denn gebracht als Regierende Bürgermeisterin? Also mal CDU? Andre hat nach seinem Politikstudium bei der Adenauer-Stiftung gearbeitet, aber vielen dort war er zu links und das zuweilen linkische Leben im Büro – das war nichts für ihn. Inzwischen ist er Industriekletterer und verdient gut beim Messebau.

Mehr Radwege findet er gut, weil er selbst oft in die Pedale tritt, aber der Blödsinn der Grünen an der Friedrichstraße – nun ja. Die Linke bleibt für ihn unwählbar – Andre wurde 1979 in Schwerin geboren, „ich stamme aus einem Kommunistenhaushalt und weiß, was das bedeutet.“ Was bleibt da noch? „Die Querdenker mit ihren Russland-Fahnen? Nee, das sind verkappte Nazis!“ Von denen hatte er schon als junger Punker in Schwerin genug, da gab‘s noch auf die Fresse.

Konkrete Berührungen mit der Politik haben Andre und seine Frau schon erlebt. Zuletzt wurde ihre Straße im Afrikanischen Viertel umbenannt, die einen deutschen Kolonialisten gewürdigt hatte. „Da wurde uns gesagt: Für die Umschreibungen werden im Bürgeramt extra Ansprechpartner da sein.“ Andre rief dort an, aber es war wie so oft in Berlin: Nur ein einziger Mann war beauftragt, der mit den vielen Anträgen nicht hinterherkommt; „ich glaube, das wird erst in einem Jahr was.“

Am Ende wird’s vielleicht eine Spaßpartei

Mit seiner Frau hat Andre ein noch junges Kind. Sie sorgen sich um die Kitaplatzsuche und die überlaufenen Schulen, dazu das beständige Bangen die Wohnung zu verlieren, ein Garten wäre auch mal schön. Nun haben sie mit den älteren Nachbarinnen und Nachbarn ihren Innenhof mit Bänken flott gemacht, jetzt trifft man sich hier öfter – und wenn Andre mal allein sein will, ohne sich einsam zu fühlen, geht er in die Kneipe.

Vielleicht wählt er am Ende eine dieser Spaßparteien, davon gibt es in Berlin nicht wenige. Nichtwählen kommt für den ostdeutschen Weddinger nicht infrage. „Das müssen wir wenigstens machen für unsere Demokratie.“

Hier sind alle zu Hause.

Hodak Ratko, Kneipier

Das Herz von Berlin – in den Kneipen schlägt es noch (solange es nicht wegen Mieterhöhungen plötzlich aussetzt). Im „Magendoktor“ wird auf Deutsch geschnattert, Englischfetzen liegen in der Luft, Türkisch sowieso. Die Klos sind, neben ein paar Hertha-Stickern, mit Tausenden Botschaften vollgesprayt.

Später am Abend bevölkern viele junge Leute den Laden.
Später am Abend bevölkern viele junge Leute den Laden.

© Robert Ide TSP

Die Klos sind mit Tausenden Botschaften vollgesprayt.
Die Klos sind mit Tausenden Botschaften vollgesprayt.

© Robert Ide/Tagesspiegel

„Hier sind alle zu Hause“, sagt Hodak Ratko, der Hauptmieter des Ladens. Er hat vor 13 Jahren die Hütte wieder auf Vordermann gebracht. Die Knastis, die sich immer hier trafen, wenn sie in Moabit rausgelassen worden waren, schmiss er raus. Draußen am Nettelbeckplatz lehnte sich der Kiez gegen tschetschenische Drogenclans auf.

So wuchs die Nachbarschaft zusammen: Man kennt und erkennt sich im Dönerladen, vorm Späti oder am im Winter trockenen Platzbrunnen zur ersten Molle am Mittag. Hodak, der mal Fußballer war und später den Traditionsklub Tennis Borussia managte, kennt noch genug Leute aus der Berliner Gesellschaft, um Kumpels im Kiez zu helfen. Kalle hat er einen Augenarzt besorgt, Ali eine Wohnung.

Dass immer noch so viele Obdachlose hier in Mülltonnen wühlen müssen, versteht der 80 Jahre alte Kneipier, der vor 60 Jahren aus dem früheren Jugoslawien nach Berlin gekommen ist, nicht: „Dieses Deutschland geht nicht gut mit sich um“, findet der Kroate und schiebt seine Kappe ins Gesicht. Berlin ist die Hauptstadt von diesem Deutschland.

Hodak Ratko, Hauptmieter der Kneipe, kam vor 60 Jahren aus dem früheren Jugoslawien nach Berlin.
Hodak Ratko, Hauptmieter der Kneipe, kam vor 60 Jahren aus dem früheren Jugoslawien nach Berlin.

© Robert Ide/Tagesspiegel

Der „Magendoktor“ operiert seit den Siebzigern an vielen Herzen, vorher hieß der Laden wohl „Hackepeter“. Marco, der mit 46 schon etwas verlebt aussieht und dem ein Tumor zu schaffen macht, ist Ur-Weddinger. Seinen Vater holte er zum ersten Mal als 14-Jähriger aus der Kneipe ab, auf Geheiß seiner Mutter. Gerade ist er arbeitslos, „ich hab zu viel Zeit“, sagt Marco und steckt sich eine Kippe an, „die Ämter geben mir nur Ratschläge, mit denen ich nichts anfangen kann“.

Marco kennt den „Magendoktor“, seit er 14 ist. Manchmal trinkt er sein Bier auch draußen am Brunnen.
Marco kennt den „Magendoktor“, seit er 14 ist. Manchmal trinkt er sein Bier auch draußen am Brunnen.

© Robert Ide/Tagesspiegel

Menschen, die etwas Hilfe brauchen, um sich um Hilfen für sich zu kümmern, hat Berlin eine Menge. Aber die Stadt kümmert sich nicht um sie, weil sie von sich selbst überfordert ist. Geht Marco wählen? „Du, uff dem Feld bin ick janz dünne, ick hab echt andre Sorjen.“

Marco ist seit Jahren von seiner Frau getrennt, aber weil er als Arbeitsloser keine Wohnung findet, lebt er noch mit ihr und seiner Tochter unter einem Dach. Also ist er oft draußen, trinkt ein Bier am Brunnen, vielleicht später noch eins in der Kneipe – und wenn es zu voll wird, hilft er beim Gläserwegräumen. Als Marco reinkommt, umarmt ihn die Tresenfrau mit den gefärbten Haaren, es ist wie nach Hause kommen. „Und, wie geht’s dir heute?“, fragt sie. Ach, hör bloß uff!

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