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Mit der Corona-Krise sind Unterstützungsangebote wie Tagespflege oder Betreuungsgruppen weggefallen.

© Oliver Berg/dpa

Pflege während der Coronakrise: „Viele Angehörige sind mit der Kraft am Ende“

Angebote für pflegebedürfte Menschen sind komplett weggebrochen. Die Last tragen jetzt die Angehörigen alleine. Eine Sozialpädagogin berichtet.

Von Sandra Dassler

Sozialpädagogin Gabriele Tammen-Pfarr leitet die Beratungs - und Beschwerdestelle „Pflege in Not“ des Diakonischen Werks in Berlin. Wenn Sie selbst Beratung benötigen, dies ist die Nummer des Kontakttelefons: 030/69 59 89 89.

Sie haben „Pflege in Not“ gegründet und leiten diese Beratungsstelle bei Konflikt und Gewalt in der Pflege älterer Menschen seit Jahren. Hat die Coronakrise die Situation verschärft?
Ja, die Situation für alte, pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen hat sich extrem verschärft! Und für viele sogar sehr dramatisch. Das liegt vor allem daran, dass fast alle Unterstützungsangebote aus unserem Hilfesystem nicht mehr in Anspruch genommen werden können, wie etwa Tagespflegen, Betreuungsgruppen, Einzelbetreuung und viele weitere Angebote, die pflegende Angehörige unterstützt und entlastet haben. Angebote, in denen alte, demenzerkrankte oder schwerstkranke Menschen mehrere Stunden betreut wurden.

Das müssen jetzt die Ehepartner, Lebensgefährten oder andere Familienmitglieder übernehmen?
Ja, seit Wochen sind viele Pflegende ganz auf sich allein gestellt. Sie müssen die häusliche Pflege allein bewältigen.

Was erleben Sie derzeit in Ihrer Beratungsstelle?
Ratsuchende beschreiben Situationen von extremer Überforderung. Sie erleben die räumliche und emotionale Enge als zusätzliche Belastung. Die starke Abhängigkeit innerhalb der Beziehung wird noch deutlicher. Die Betroffenen sind durch mangelnde Kontakte nach außen, ganz auf sich reduziert. Aggressionen und Konflikte nehmen zu.

Pflegende Angehörige sind nach mehr als acht Wochen Rund-um-die-Uhr-Pflege mit ihrer Kraft am Ende, berichten sie. Aber auch Mitarbeiter von Pflegediensten haben Angst, sich anzustecken, vor allem, wenn sie teilweise immer noch mit selbst genähten Masken in die Pflegehaushalte gehen.

Das beunruhigt sicher auch die Pflegebedürftigen, oder?
Natürlich. Und auch deren Angehörige. Deshalb muss Schutzkleidung unbedingt ausreichend zur Verfügung stehen. Ebenso notwendig sind umfangreiche Tests, damit Infektionen schnell entdeckt werden. Die Angst, krank zu werden, ist bei Angehörigen sehr groß – auch weil dann oft Versorgung ihres Partners oder ihrer Eltern ungeklärt ist.

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Sehr beunruhigend war für viele die Meldung, dass angeblich 37 Prozent der an Covid-19-Verstorbenen in Pflegeeinrichtungen lebten. Auch wenn man diese Zahlen sicher kritisch hinterfragen muss – das ist dramatisch. Zumal befürchten Pflegeeinrichtungen, dass die Lockerung des Besuchsverbotes die Lage noch verschärfen könnten.

Sozialpädagogin Gabriele Tammen-Pfarr
Sozialpädagogin Gabriele Tammen-Pfarr

© promo

Inwiefern?
Die Einrichtungen befürchten, dass durch die Besuche der Angehörigen die Infektionsgefahr in ihren Häusern steigt. Wir gehen aber davon aus, dass die Besucher sogar mehr als andere darauf achten, ihre Angehörigen und das Pflegepersonal nicht zu gefährden. Aber unabhängig davon haben ja alle Pflegekräfte, also auch die Mitarbeiter der ambulanten Pflegedienste, die Unglaubliches geleistet haben, jetzt wieder mehr soziale Kontakte. Sie müssen U-Bahn fahren, sich um ihre Kinder kümmern, einkaufen gehen.

Sprechen ihre Anrufer auch über physische und psychische Gewalt?
Ja. In unseren Beratungsgesprächen wird sehr offen auch über konflikthafte und aggressive Pflegesituationen gesprochen. Sätze wie: ,Ich halte es nicht mehr aus, ich ertrage ihn nicht mehr.‘ ,Jeden Tag zusammen in der Wohnung, das ist zu viel.‘ ,Ich bin oft voller Wut und schreie ihn dann an.‘ ,Ich schließe sie ein und gehe raus, um Luft zu holen.‘ ,Ich kann nicht mehr!‘ ,Ich habe sie fest angefasst und an ihr rumgerissen, weil sie sich nicht anziehen lassen wollte.‘ ,Wenn die Tagespflege nicht bald wieder öffnet, drehe ich durch.‘

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Was müsste die Politik tun, um zu helfen?
Pflegende Angehörige brauchen rasch und unbürokratisch finanzielle Hilfe. Pflegehaushalte und ambulante Pflegedienste benötigen ausreichend Schutzmaterial und vor allem auch Zugang zu Testungen. Für extrem belastete pflegende Angehörige – nicht nur in systemrelevanten Berufen – sollte es die Möglichkeit einer Notbetreuung durch die Tagespflege geben.

Wie meinen Sie das mit der finanziellen Hilfe?
Geld für die Tagespflegeeinrichtungen oder Kurzzeitpflegen, die seit Wochen geschlossen sind, liegt doch jetzt bei den Pflegekassen und wird nicht abgerufen. Diese Gelder könnte man an die pflegenden Angehörigen als ein frei verfügbares Budget zur Verfügung stellen. Damit könnten sie beispielsweise den Nachbar bezahlen, damit der sich ein paar Stunden zu der alten Mutter setzt und ihr etwas vorliest. Oder jemanden, der Essen kocht, einkauft – wie auch immer.

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Sie gehen nicht davon aus, dass die Tageseinrichtungen bald wieder öffnen?
Nein, das glaube ich nicht. Das wird wohl eher erst ganz zum Schluss geschehen. Um es mal salopp zu sagen: Da sitzen alle anderen schon wieder seit Wochen in den Biergärten.

Angesichts der Not in der Pflege – sind Sie eigentlich für die Lockerungen der Schutzmaßnahmen?
Durch unsere Senatsverwaltung haben wir uns in den letzten Wochen gut durch die Krise begleitet gefühlt. Was die Lockerungen angeht, befinden sich Politiker allerdings in einem wirklichen Dilemma. Ich persönlich würde es lieber etwas vorsichtiger angehen.

Eines sollte jedoch jedem klar sein: Je mehr Lockerungen kommen, desto höher muss unsere Achtsamkeit und unsere Aufmerksamkeit für betagte und pflegebedürftige Menschen werden - und für all jene, die sich täglich um sie kümmern.

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