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Auf über 40 Seiten gibt der Maßnahmenplan IMP konkrete Handlungsempfehlungen und wer sie umsetzen soll.

© Mauritius Images

Vergessener Schutz: Berlin setzt Plan gegen Kindesmissbrauch kaum um

Der sexuelle Missbrauch an Kindern steigt, doch bei den Gegenmaßnahmen hakt es. Die Opposition kritisiert: „Nichts davon ist umgesetzt worden.“

Von Ronja Ringelstein

Berlin hat sich seit 2016 auferlegt, deutlich mehr gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder zu tun. Ein umfangreicher Maßnahmenplan entstand, deutschlandweit vorbildhaft. In vier Jahren und rund 70 Sitzungen war in einem Kraftakt mit zahlreichen Freien Trägern, den Kirchen und Senatsverwaltungen das Maßnahmepaket „Integrierte Maßnahmeplanung gegen sexuelle Gewalt“.

Allein: Was seitdem passiert ist, weiß niemand so recht. Und, wie so oft in Berlin, bleibt unklar, wer verantwortlich ist.

Die CDU-Politikerin Emine Demirbüken-Wegner war damals an der Erstellung des Integrierten Maßnahmeplans – kurz IMP – als Staatssekretärin für Gesundheit maßgeblich beteiligt. Heute ist sie als Abgeordnete in der Opposition und sagt: „Nichts davon ist umgesetzt worden.“ Dies wiege umso schwerer, weil die Kriminalitätsstatistik der Polizei auch in 2018 einen Anstieg bei den Sexualdelikten ausweise. Plus 10,9 Prozent, wobei der sexuelle Missbrauch von Kindern um 2,5 Prozent angestiegen ist.

Der Maßnahmenplan sei gut, das sagen alle, die sich mit dem Thema auskennen. Auf über 40 Seiten gibt er konkrete Handlungsempfehlungen und wer sie umsetzen soll. Aber was ist seitdem passiert?

Ein Beispiel: Auf Seite 8 findet sich etwa die Anweisung „Verbindliche Schutzkonzepte in allen Aktivitätsräumen von Kindern und Jugendlichen ausbauen“. Zuständig für die Umsetzung sind etwa Freie Träger und Fachberatungsstellen. Initiieren sollte es die Senatsjugendverwaltung. Ein solches Schutzkonzept leitet Mitarbeiter einer Einrichtung an, wie sie mit einem Verdachtsfall von Missbrauch umzugehen haben.

Soweit der Plan. Die Umsetzung aber hakt: Aus den Reihen der Freien Träger heißt es, die Schutzkonzepte seien ein schwieriger Punkt. Sie seien vorgeschrieben, damit man etwa bei Ausschreibungen konkurrenzfähig sei. In der Praxis würden sie häufig schnell dahingeschrieben, aber nicht gelebt und umgesetzt.

Beratungsstellen fehle es an Ressourcen

Den Fachberatungsstellen fehle es an Ressourcen, um ausreichend beraten zu können. „Mein Eindruck ist, viele Mitarbeiter vor Ort kennen das Schutzkonzept meistens gar nicht. Es ist ein Stück Papier im Schrank und kein gelebter Kinderschutz, denn für dessen Entwicklung bedarf es Zeit, die die Einrichtungen nicht haben“, sagt Lukas Weber vom Verein „Hilfe für Jungs“.

Auch in anderen Bereichen gibt es Kritik an der mangelnden Umsetzung des Konzeptes. Dorothea Zimmermann, Psychologin des Mädchennotdienstes „Wildwasser Berlin“ war für die Freien Träger an der Erarbeitung des Maßnahmeplans beteiligt. Sie sagt, ein wichtiger Teil sei die verpflichtende Verankerung von Fortbildungen. „Da ist aber nichts passiert. Gerade im Bereich Justiz, Schule, Polizei, müssen die Leute genügend fortgebildet sein, damit sie Missbrauch überhaupt erkennen.“

Einmalige ressortübergreifende Vernetzung

Der Maßnahmenplan sei als Gesamtpaket durch die einmalige ressortübergreifende Vernetzung besonders. „Aber da das nicht umgesetzt wird, werden das Erkennen von Missbrauchsfällen, die Intervention und Prävention erschwert“, sagt Zimmermann.

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Im Maßnahmenplan steht, was hätte passieren sollen: „Koordinierung der Umsetzung des Maßnahmenplans – Controlling“ und „Fortschreibung des Maßnahmenplans“. Für das Maßnahmenplan-Controlling sollte die Geschäftsstelle die Umsetzung der Vorschläge überwachen. Diese Stelle gibt es in der Senatsverwaltung für Gesundheit. Die Mitarbeiterin hat im September 2018, mehr als zwei Jahre nach Fertigstellung des Maßnahmenplans, die Koordinierung übernommen. Von den Freien Trägern hört man, dass sie noch nie Kontakt zu ihr hatten.

Zuständigkeiten nicht geklärt

126 Maßnahmen sieht der Plan vor. Zuständig, heißt es aus der Gesundheitsverwaltung, seien die jeweiligen Ressorts. Deshalb gibt es auch im Haushaltsplan zum Doppelhaushalt 2020/2021 keinen eigenen Topf mit Geld zur Umsetzung, sondern jede Senatsverwaltung muss selbst sehen, wie sie vorgeht. Es sind 48 Maßnahmen bei der Gesundheitsverwaltung, zwei in der Senatskanzlei, 20 in der Justizverwaltung, fünf in der Senatsverwaltung für Inneres, zwölf bei der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales und 39 soll die Senatsjugendverwaltung umsetzen.

Fragt man die Senatsverwaltungen an, ergibt sich das Bild, dass jede für sich den Kinderschutz im Blick hat. Von der ressortübergreifenden Vernetzung, die den Maßnahmenplan so vorbildhaft gemacht hatte, ist aber nichts zu merken.

Die Sprecherin der Senatsjugendverwaltung weist darauf hin, dass es ja bereits seit 2007 das starke „Netzwerk Kinderschutz“ gebe, zu dem die Kinderschutzambulanzen und der Berliner Notdienst Kinderschutz gehöre. Außerdem habe man bei der Erarbeitung des Plans kräftig unterstützt.

Aus der Innenverwaltung heißt es, der Maßnahmenplan werde als Handlungsgrundlage genutzt, „alle Maßnahmen wurden umgesetzt bzw. befinden sich in Umsetzung“. Auch aus der Justizverwaltung heißt es: „Die IMP stellt eine fachliche Empfehlung der am Netzwerk beteiligten Akteure dar. Soweit unser Haus betroffen ist, wird die IMP als solche Empfehlung genutzt.“ Die Mehrzahl der Maßnahmen sei initiiert und umgesetzt.

Umsetzungsstand kaum überprüfbar

Ob das tatsächlich so ist, ist kaum überprüfbar. Der gesundheitspolitische Sprecher der Linksfraktion, Wolfgang Albers, meint: „Das ist schon das Problem, es gibt keine Liste, welche Maßnahmen das konkret sind.“ Das Parlament steckt gerade mitten in den Verhandlungen über den Haushalt.

Albers sagt: „Wenn ein guter Zeitpunkt wäre über die Umsetzung des IMP zu sprechen, dann jetzt“. Das tue nur keiner. Und – wie so viele in der Berliner Landespolitik – hatte auch Albers selbst das Thema bislang nicht auf dem Schirm.

Das liegt wohl auch daran, dass das Parlament über die Umsetzung bislang nicht informiert wurde. Die letzte offizielle Wasserstandsmeldung in dem Thema sei der Bericht von 2016 – nämlich der Plan selbst. „Abgesehen von ein paar Parlamentarischen Anfragen wurde das Parlament über die Umsetzung des IMP nicht informiert“, sagt Albers.

Es scheint nicht viel passiert zu sein. Dem Tagesspiegel sagte die Gesundheitsverwaltung: „Die Umsetzung des IMP obliegt dezentral den zuständigen Senatsverwaltungen. Auf der Arbeitsebene wird laufend die Umsetzung der Maßnahmen nachgehalten.“ Eine Runde auf Staatssekretärsebene hat es erst einmal gegeben – im Februar 2019.

In Zukunft solle immerhin eine regelmäßige Bestandsaufnahme stattfinden. Eine Auswertung werde voraussichtlich zum Ende des dritten Quartals 2019 vorliegen.

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