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St. Hedwig Friedhof in der Liesenstaße in Berlin Mitte.

© Doris Spiekermann-Klaas

Uwe Kempen (Geb. 1960): Schönheit entsteht aus dem Verborgenen

Wenn es doch nicht schnell genug geht, sagt er zu den Polizisten: „Das hier ist Kunst“.

Eine Frau, ein Mann. Sie steigen die Stufen des U-Bahneinganges hinab. Der Mann hält einen Fotoapparat, die Frau die Aufschläge ihres Mantels zusammen. Sie schlendern den Bahnsteig entlang, sie bleiben stehen, sie sehen sich um. Sie sehen sich an. Eins, zwei, drei, jetzt: Die Frau reißt sich den Mantel herunter, der Mann den Fotoapparat hoch. Sie steht da, vollkommen bloß, er drückt auf den Auslöser, vier, fünf, sechs, die Leute um sie herum für einen Moment bewegungslos, wie vom Blitz getroffen, sie schauen auf die milchige Haut der Frau, ihre Brüste, die Schenkel, die Scham, der Mann lässt den Fotoapparat sinken, die Frau streift den Mantel über, sie steigen die Stufen hinauf, sind weg, bevor jemand einschreiten kann.

Nacktheit hat nichts mehr zu bedeuten. Nacktheit hat alles zu bedeuten.

Denn Nacktheit in der Öffentlichkeit erregt, dem Gesetz nach, öffentlichen Ärger, den ein staatliches Exekutivorgan abzustellen hat. Polizisten fordern die Nackten auf, ihre Nacktheit zu beenden, während auf Plakatwänden Pos sich wölben, Brüste prangen. Während junge Mädchen in knappen Hosen umherlaufen. Und Uwe Kempen sagt zu den Polizisten, wenn es doch nicht schnell genug geht: „Das hier ist Kunst.“

So werden die Polizisten manchmal auch zu Kunstförderern. Auf der Straße des 17. Juni zum Beispiel. Das Modell posiert, Uwe fotografiert, die Autos halten. Stau. Polizisten rücken an. „Fahr‘nse weiter“, ruft einer den Gaffern zu, „lassense den Mann arbeiten!“

Die Bilder, die dort entstehen, zeigen und verbergen. Der Betrachter sieht die Nacktheit und kann von ihr träumen. Das Modell ist von hinten aufgenommen, Brüste, Scham, Gesicht bleiben verborgen.

Subtile Erotik, Kunst, keine Pornografie

Dieses Spiel um das Sichtbare und das Unsichtbare treibt der Fotograf immer wieder. Der weibliche Körper ist nur noch Silhouette, die Haut bedeckt von einer hauchdünnen zweiten Haut, einem Anzug, „Second Skin“ heißt die Serie, auch der Kopf verschwindet jetzt unter dem Stoff, und der Körper erscheint noch deutlicher, weil er verhüllt ist.

Für die „Calla“-Serie rückt die Kamera an die intimsten, verborgenen Orte; die Calla, eine Sumpfpflanze, mit ihrem mittigen Kolben, der halb umschlossen wird von einem herzförmigen Hochblatt; die Blumen seiner Modelle, die er in stundenlangen Studiositzungen aufnimmt, ganz anders, als während der schnellen U-Bahn-Aktionen; die Frau, die ewig stillzuhalten hat in der vollkommen entblößten Position; die Schwarz- Weiß-Bilder dann, auf denen kaum mehr zu erkennen ist, ob es sich um eine menschliche oder eine botanische Blüte handelt. Subtile Erotik, Kunst, keine Pornografie.

Seine Modelle brauchen Vertrauen. Es muss Zeit vergehen, bis er ihnen diese Art von Fotos vorschlägt. Er kann ja nicht einfach sagen: „Bück dich mal nach vorn.“ Die Frauen sollen entscheiden. Uwe sagt: „Ohne meine Modelle bin ich nichts.“ Manche werden zu Musen, für Jahre. Nächtelang schaut er mit ihnen gemeinsam die Kontaktbögen durch, bis sie die zwei, drei Aufnahmen, die ihnen gelungenen erscheinen, auswählen. Und er entlohnt sie immer mit den Bildern, nie mit Geld.

Seine Asche kommt in eine Kamera

Die Frauen, die er aussucht und dann anspricht, zuweilen in irgendwelchen Cafés, er besitzt dieses Talent, wildfremde Menschen anzusprechen, ohne dass die sich bedrängt fühlen, die Frauen sollen keine idealen Körper haben. Und doch ist Schönheit alles für ihn. Schönheit auf den zweiten, auf den dritten Blick; Schönheit, die aus dem Verborgenen entsteht; Schönheit, erwachsen aus dem Spiel, aus Träumen.

Uwe hat Träume, hatte sie immer. Geht fort aus dem Krefelder Elternhaus; weg aus diesem Waldorfschulenumfeld, das er nie ernst nehmen konnte; tanzt klassisches Ballett, richtet dabei seinen Blick auf den eigenen Körper und auf die Körper der anderen, auf das Umkreisen, das Angezogen- und das Abgestoßensein; gewinnt zwei Mal den Foto-Jugend-Sonderpreis; macht für Magazine Aufnahmen auf Sport- und Musikveranstaltungen, fährt in Krisengebiete, dokumentiert das Grauen; hält das Grauen nicht aus; wendet sich dem Weiblichen zu und dann, am Ende, der Architektur, auch hier dieses Thema, nah und fern, die Objekte in letzter Konsequenz von einer Drohne aus aufgenommen; er erdenkt ein „Medienboot“, ein Wassergefährt, eigens für Fotografen; reist nach Bali, schon krank, kurz vor seinem Tod.

Seine Asche, so sein Wunsch, kommt in eine Kamera, und die Kamera kommt in die Erde.

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