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Der Seddinwall ist von Legenden umrankt, die offenbar Franzosen von der Insel fernhalten.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Schmöckwitz: Wo die Fische mager sind

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Folge 76: Schmöckwitz.

Fontane war wenig beeindruckt von Schmöckwitz. Im vierten Teil seiner „Wanderungen“ beschreibt er das Dorf 1882 als „öd und ärmlich“. Die örtliche Kirche sei ein „trister Bau“, der Gesamteindruck bestürzend: „Was hier so niederdrückend wirkte, war die Abwesenheit alles Freien und Selbständigen; die Armut kann poetisch sein, die Armseligkeit nie.“

Als sei das nicht genug, gibt Fontane den Schmöckwitzern noch ein paar Seitenhiebe mit, als er in den „Wanderungen“ die faszinierende Geschichte des Fischers Kahnis erzählt. Dieser „hatte eine junge Frau, eine Kossätentochter aus Schmöckwitz, die sehr blond und sehr hübsch war, viel hübscher, als man nach ihrem Geburtsort hätte schließen sollen“.

Als 1806 Napoleon mit seinen Truppen in Brandenburg einrückt, fürchtet Kahnis, die schmucken Franzosen könnten seiner Frau den Kopf verdrehen. Er siedelt darum mit ihr auf eine winzige Insel im Seddinsee um, unter einem Vorwand, den seine Frau ihm gutgläubig abnimmt, weil ihr Verstand „gerade die Höhe von Schmöckwitz hielt“.

Der Plan geht auf: Kein Franzose setzt je einen Fuß auf die Insel. Als Napoleons Truppen ein paar Jahre später wieder abziehen, haben sich der Fischer und seine Frau dort so gut eingerichtet, dass sie einfach bleiben. Auch als nach einem langen, glücklichen Eheleben die blonde Schmöckwitzerin stirbt, verlässt Kahnis die Insel nicht, von der ihn am Ende der Geschichte erst sein eigener Tod scheidet.

Lieber Fisch aus der Ostsee

An dem Samstag, an dem ich Berlins südöstlichsten Ortsteil besuchte, wurde dort zufällig gerade ein Dorffest gefeiert. Ein Fischer verkaufte Räucherlachs aus Norwegen und Hering aus der Ostsee.

Im Seddinsee und den übrigen Schmöckwitzer Gewässern, erklärte er mir, seien die Fische nicht fett genug zum Räuchern. „Die taugen nur zum Braten oder Kochen.“ Vielleicht, dachte ich, war Schmöckwitz deshalb so ärmlich, als Fontane das damalige Fischerdorf besuchte.

Auf einer Festbühne sangen ein paar Schmöckwitzer in gestreiften Fischerhemden Volkslieder. Davor war ein kleiner Bücherstand aufgebaut. Ein älterer Herr lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine von ihm selbst verfasste Abhandlung über Fontane. „Eine Gegendarstellung“, erklärte er mir – die Geschichte vom Fischer Kahnis sei nämlich gar nicht wahr.

Gelebt habe auf der Insel im Seddinsee vielmehr ein alter Tunichtgut, der mit seiner Stieftochter neun uneheliche Kinder gezeugt habe. Der Fontane-Experte war ein sympathischer Mann, und seine Gegendarstellung kam mir nicht unplausibel vor, aber ich wurde den Verdacht nicht los, dass er die Fischergeschichte vor allem deshalb in Zweifel ziehen wollte, weil damit auch dem Rest von Fontanes Schmöckwitz-Schmähungen der Ruch des Erfundenen anhing.

Ein Campingplatz inmitten der kleinen Insel

Bei einem Wassersportclub am Dahme-Ufer lieh ich mir ein altes DDR-Faltboot und paddelte damit durch den halben Seddinsee, bis ich in der Mitte die kleine Insel erreichte. Sie nennt sich heute Seddinwall und ist ein Campingplatz.

Ich kam mit einem freundlichen Zeltgast namens Tom ins Gespräch, der hier schon seit den 60er Jahren jeden Sommer verbrachte. Er versicherte mir, dass er in all der Zeit auf der Insel niemals auch nur einen einzigen Franzosen gesehen hatte.

Fläche: 17,1 km² (Platz 13 von 96)

Einwohner: 4218 (Platz 91 von 96)

Durchschnittsalter: 48,2 (Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Horst Bosetzky (Krimiautor), Wolfgang Stadthaus (Ortsteilchronist)

Gefühlte Mitte: Dorfkirche

Alle Folgen: www.tagesspiegel.de/96malberlin

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