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Über den Dingen. Wer ganz oben im MV wohnt, genießt einen weiten Blick.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Märkisches Viertel: Wo die dicksten Blöcke stehen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Folge 56: Märkisches Viertel.

In der Treuenbrietzener Straße sah ich Blaulichter blinken. Ich beschleunigte meine Schritte und malte mir aus, was ich am Tatort wohl vorfinden würde – Junkies mit verdrehten Augen, Huren mit ausgeschlagenen Zähnen, Mafiosi mit abgetrennten Gliedmaßen, blutüberströmte Opfer einer Bandenschießerei?

„Nö“, sagte der Polizist, der mit seinem Wagen die Straße versperrte. „Fehlalarm.“ Er deutete auf die Feuerwehrautos, die vor einem der kiezcharakteristischen Hochhäuser parkten – die Besatzungen waren gerade dabei, ihre Schläuche wieder einzurollen. „Ein Nachbar hat Rauch aus einem Fenster aufsteigen sehen. War aber nur ein Topf, den jemand auf dem Herd vergessen hat.“

"Nichts mehr los mit der Jugend", sagt der Polizist grinsend

Fast war ich ein bisschen enttäuscht. War das Märkische Viertel am Ende gar nicht das Gangsterparadies aus Sidos inoffizieller Ortsteilhymne „Mein Block“, die ich zur Vorbereitung auf meinen Ausflug gehört hatte? Der Polizist lächelte müde. „Lange her“, sagte er. In den 90er Jahren, als Sido um die Blöcke gezogen sei, habe es hier noch Jugendgangs gegeben, erklärte er mir. Aber deren Mitglieder hätten ihre Kleinkriminellenkarrieren längst an den Nagel gehängt, und neue Gangs seien ihnen nicht nachgefolgt. „Nichts mehr los mit der Jugend“, sagte der Polizist grinsend.

Als ich weiter durch den Ortsteil lief, wurde mir schnell klar, was die jungen Leute hier vom Gang-Gründen abhielt. Auf Schritt und Tritt begegneten mir Jugendzentren, Familienzentren, Selbsthilfe-, Erziehungs- und Beratungszentren, Skateparks, Trampolinhallen, BMX-Parcours und andere Einrichtungen, die offensichtlich darauf abzielten, die Jugend nicht auf dumme Gedanken kommen zu lassen.

Nur in einer Kneipe neben der zentralen Einkaufspassage sah ich noch ein paar Gestalten sitzen, die aussahen, als suchten sie in der „Café-Bar Fun“ keinen Spaß, sondern Ärger. Mit düsteren Blicken und mahlenden Kieferknochen hackten sie auf ihre Spielautomaten ein. Im Fernsehen liefen Musikvideos mit tanzenden Frauen, die 30 Jahre jünger waren als die Frauen hinter der Theke. Eine der Bardamen trug eine voluminöse Nutellastreifen-Undercut-Haarsprayfrisur, die ihr in den Hipster-Ortsteilen dieser Stadt neidvolle Seitenblicke garantieren würde. Als ich sie fragte, ob es im Märkischen Viertel irgendwelche Sehenswürdigkeiten gebe, schüttelte sie amüsiert ihre Mähne. „Dit is Ghetto hier.“

Das hätte sich der gute alte Fontane nicht träumen lassen

Gegenüber, im Fontane-Haus, fand gerade ein Festival für Country-Fans statt. Nie zuvor hatte ich so viele Cowboyhutträger auf einem Fleck gesehen. Zwei rauchende Thüringerinnen mit weißen Stetsons erzählten mir, dass sie jedes Jahr ins Märkische Viertel reisten, weil im Fontane-Haus das größte Western-Treffen Europas stattfinde. Sieh an, dachte ich – das hätte sich der gute alte Fontane sicher nicht träumen lassen.

Am Ende schlich ich mich in einen der Wohnblöcke, fuhr mit dem Fahrstuhl in den 18. Stock und stellte mich auf die Außenplattform des Treppenhauses. Weit unter mir hörte ich das Rauschen des Verkehrs und die Schreie von ein paar Jungs, die in einem Bolzkäfig Fußball spielten, während im Dunst hinter den Hochhäusern die märkische Weite verschwamm. Fontane, dachte ich, steig aus dem Grab, das musst du sehen!

Fläche: 3,2 km² (Platz 83 von 96)
Einwohner: 39 261 (Platz 35 von 96)
Durchschnittsalter: 40,8 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Sido (Rapper), Fil (Komiker)
Gefühlte Mitte: Märkisches Zentrum
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

Diese Kolumne erschien am 14. April 2018 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

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