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Altes Industrieareal, neue Nutzer. Black Box Music ist vor allem als Tour-Organisator von Rammstein bekannt.

© Tsp

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Janz normaler Kapitalismus

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Nr. 92: Wilhelmsruh

Wilhelmsruh, einer der kleinsten Berliner Ortsteile, besteht im Wesentlichen aus einem überschaubaren Wohngebiet und einem weitläufigen Industriegebiet. Letzteres hat im Zuge seiner gut hundertjährigen Geschichte die typischen Stadien der Berliner Wirtschaftsentwicklung durchlaufen: aufgeblüht in der Gründerzeit, zerstört im Zweiten Weltkrieg, isoliert während der Teilung, umgekrempelt nach der Wiedervereinigung.

Den Anfang machte der Industrielle Sigmund Bergmann, der das Areal 1906 kaufte, weil seinem Stammwerk in Wedding der Platz ausging. Eine Turbinenfabrik entstand, ein Umspannwerk, später Rüstungsbetriebe, die das Gelände im Krieg zum Ziel alliierter Bombenangriffe machten. Viel war von den Bergmann-Werken nicht übrig, als 1945 die Rote Armee in den Ortsteil einrückte.

Ein DDR-Comic über kapitalistische Menschenhändler

Was sich wiederaufbauen ließ, wurde vier Jahre später zum Volkseigenen Betrieb Bergmann-Borsig zusammengefasst. Was dann passierte, illustriert ein Comic, den ich in einer kleinen Bibliothek auf dem Werksgelände entdeckte. Er erschien im DDR-Jugendmagazin „Atze“ unter dem Titel „Es geschah in Wilhelmsruh“. Man schreibt das Jahr 1961, als ein paar dreiste Agenten aus dem amerikanischen Sektor versuchen, einen Ingenieur des VEB Bergmann-Borsig in den Westen zu verschleppen.

Ein wachsamer Volkspolizist kann das verhindern, doch weil die kapitalistischen Menschenhändler in jenen Tagen ständig ostdeutsche Wissenschaftler, Ärzte und Fachleute kidnappen, bleibt dem sozialistischen Staat nur ein Ausweg: Unter dem Jubel der Ost-Berliner Bevölkerung wird ein antifaschistischer Schutzwall quer durch die Stadt gebaut.

Möglicherweise hatten die DDR-Oberen das Gefühl, den Menschen in Wilhelmsruh den Mauerbau besonders gut begründen zu müssen, weil er hier, an der Zonengrenze, besonders spürbar war: Die Mauer verbarrikadierte den Zugang zum S-Bahnhof Wilhelmsruh, der jetzt nur noch von westlicher Seite zu betreten war, während die Wilhelmsruher von Pankow aus mit dem Bus fahren mussten.

Black Music Box breitet sich stetig auf dem Bergmann-Areal aus

Eine Bibliothekarin, die früher im VEB gearbeitet hatte, erzählte mir von der Nachwendezeit, als die Bergmann-Werke von einem West-Konkurrenten übernommen wurden und der Großteil der Belegschaft die Arbeit verlor. Als kurz darauf auch noch die alte Bibliothek des Ortsteils einging, restaurierten ein paar Freiwillige auf eigene Faust das Pförtnerhäuschen der Bergmann-Werke, in dem heute die komplett ehrenamtlich betriebene Bibliothek sitzt. Die Geschichte des Fabrikareals hätte damit ein einigermaßen versöhnliches Ende finden können – wenn das dicke Ende nicht noch käme.

Auf dem zunehmend deindustrialisierten Werkgelände hat sich nämlich seit der Wende ein stetig wachsendes Unternehmen für Veranstaltungstechnik ausgebreitet: Black Box Music, bekannt vor allem als Tour-Organisator von Rammstein. Dessen Firmenlogo, ein Totenkopf mit gekreuzten Mikrofonen, ziert inzwischen das halbe Bergmann-Areal – und bei ihrer letzten Erweiterungsrunde hat die Firma nun auch das historische Pförtnerhäuschen aufgekauft. Die Bibliothek steht damit vor dem Aus, wie mir die Ehrenamtler voller Bitterkeit erzählten, ihr Mietvertrag wird nicht verlängert. „Der janz normale Kapitalismus“, klagte eine der Frauen.

Wenn eine Geschichte mit Dampfturbinen beginnt und am Ende ein Subkultur-Imperium alles plattmacht, dann ist das wohl tatsächlich der ganz normale Berliner Kapitalismus.

Fläche: 1,37 km² (Platz 94 von 96)

Einwohner: 7529 (Platz 81 von 96)

Durchschnittsalter: 45,5 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Sigmund Bergmann (Industrieller), Thilo Goos (Musikunternehmer)

Gefühlte Mitte: Hauptstraße

Alle Folgen

91 Ortsteile hat unser Kolumnist Jens Mühling schon besucht. Alle Folgen von „Mühling kommt rum“ zum Nachlesen finden Sie unter: www.tagesspiegel.de/96malberlin

Noch mehr aktuelle Berichterstattung aus den Ortsteilen finden Sie in unseren Bezirks-Newslettern: leute.tagesspiegel.de

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