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Weil die Justiz mit den Aktenbergen nicht hinterherkommt, warnen Richter vor den Folgen für den Rechtsstaat.

© Stephanie Pilick/dpa

Justiz in Brandenburg: "Uns steht das Wasser bis oben hin"

Selbstjustiz statt langer Gerichtsverfahren? In Brandenburg komme das wegen der Personalnot immer häufiger vor, warnen Richter und Anwälte.

Von Sandra Dassler

„Eine offensichtliche Unwahrheit wird nicht besser, wenn man sie gebetsmühlenartig immer wiederholt“, sagt ein Staatsanwalt aus Brandenburg, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Auch wenn unser Justizminister Stefan Ludwig noch so oft erzählt, dass es genügend Personal gibt – an den Strafgerichten ertrinken wir förmlich in Arbeit.“

Und nicht nur dort, wie Richter und Staatsanwälte aus allen Teilen des Landes berichten. Einige äußern gar die Vermutung, dass die Justiz im Land „bewusst lahmgelegt werden soll, weil sie in der Vergangenheit immer wieder die Brandenburger Politik und bestimmte Behörden in ihre Schranken verwiesen hat“. Sie führen dafür etwa die Problematik der Altanschließer, Wahlen, die nicht rechtens waren, oder auch die Enteignung von Bodenreformland an. Letztere war bekanntlich vom Bundesgerichtshof als „sittenwidrig“ eingestuft worden.

Vor Kurzem hatte Medienberichten zufolge angesichts der eklatanten Personalnot sogar einer der dienstältesten Richter Brandenburgs einen Wutausbruch. „Laut Landesregierung und Oberlandesgericht sind wir ja hier auskömmlich mit Personal versorgt“, sagte der Vorsitzende der 5. Großen Strafkammer am Potsdamer Landgericht, Andreas Dielitz: „Die Zahlen sind das eine, die Realität ist eine andere. Uns steht das Wasser bis oben hin.“

"Uns steht das Wasser bis oben hin"

Dielitz, der auch den Prozess gegen den inzwischen verstorbenen Hotelier Axel Hilpert wegen Fördermittelbetrugs beim Bau des „Resort Schwielowsee“ geleitet hat, äußerte sich in einem Mammutverfahren gegen Zigarettenschmuggler, das zu diesem Zeitpunkt bereits 76 Verhandlungstage andauerte. Auch hier hatten Angeklagte auf freien Fuß gesetzt werden müssen, genau wie der Ex-NPD-Politiker und mutmaßliche Nauener Brandstifter Maik Schneider und ein in erster Instanz verurteilter Mörder aus Stahnsdorf, der seine Frau bei einem absichtlich herbeigeführten Autounfall getötet haben soll.

Die oft zu lange Verfahrensdauer auf die „Faulheit“ der Richter oder anderer Justizangestellter zurückzuführen, sei unverschämt, sagte Dielitz: Die meisten nähmen sogar regelmäßig Akten zur Bearbeitung mit nach Hause. Aber viele Verfahren seien komplex, so dauere ein internationales Amtshilfeersuchen oft Monate. Wenn dann Richter – auch wegen zu hoher Arbeitsbelastung – krank würden, seien Verzögerungen unausweichlich.

Der frühere NPD-Politiker Maik Schneider mit seinem Anwalt (l).

© Bernd Settnik/picture alliance/dpa

Im brandenburgischen Justizministerium weist man hingegen immer wieder darauf hin, dass das Oberlandesgericht die Entlassung von Maik Schneider aus der Untersuchungshaft „nicht mit einer Überlastung“ der Gerichte begründet habe. Unabhängig davon kenne man die Situation und bemühe sich um Abhilfe.

Vielen reicht das nicht aus. „Der Justizminister redet immer von 200 neuen Stellen, verschweigt aber, wie viele Stellen in den vergangenen Jahren abgebaut wurden“, sagte der Potsdamer Rechtsanwalt Jens Frick dem Tagesspiegel: „Ludwig verweist auf die im Doppelhaushalt 2019/20 geschaffenen 15 neuen Richterstellen, aber die sind alle bei Sozial- und nicht bei Verwaltungs-, Zivil- und Strafgerichten, wo sie mindestens genauso nötig gebraucht würden.“ So dauere ein Verfahren am Amts- und Landgericht Potsdam durchschnittlich etwa zwei und am Verwaltungsgericht dreieinhalb Jahre vom Eingang der Klage bis zur Entscheidung.

Und an anderen Gerichten des Landes sei die Situation nicht viel besser, sagt Frick, der auch Vorstandsvorsitzender des Versorgungswerkes der Rechtsanwälte in Brandenburg ist: „Und das liegt nicht an den Richtern, denn wenn man deren Verfügungen und Schreiben aufmerksam liest, so stellt man anhand der Datumsangaben fest, dass viele auch an Wochenenden und Feiertagen arbeiten.“

Verwaltungsrichter würden gelegentlich sogar zu Tricks greifen

Verwaltungsrichter würden in ihrer Not gelegentlich sogar zu Tricks greifen: „Man bespricht einen Nebenaspekt des Falls mit den Parteien, fällt dann dafür eine Entscheidung oder stellt fest, dass diese Frage erledigt ist – und versieht die eigentliche Hauptsache mit einem neuen Aktenzeichen, sodass dieses Verfahren in der Statistik erst ab diesem Zeitpunkt wieder zu zählen beginnt.“

Praktiken wie diese sprechen sich natürlich irgendwann ebenso herum wie die unglaublich langen Verfahrenszeiträume, meint Jens Frick. So entstehe manchmal der Verdacht, dass „die dritte Gewalt im Staat langsam, aber sicher kaputt gemacht wird“. Zumindest erlebe er jetzt schon, dass ihm Mandanten, die säumige Kunden haben, sagen: „Wenn ich den juristisch korrekten Weg gehe und den Schuldner verklage, dauert das Verfahren mindestens fünf Jahre und bis dahin hat der sowieso kein Geld mehr." Da bezahle man doch lieber Leute, die das Problem anders für einen lösten, „schneller, preiswerter, erfolgversprechender“.

Nicht wenige seiner märkischen Rechtsanwaltskollegen haben Ähnliches erlebt, nicht alle sehen dafür aber ausschließlich die Schuld beim gegenwärtigen linken Justizminister Stefan Ludwig. „Das Kaputtsparen hat ja lange vorher unter den CDU-Justizministerinnen Barbara Richstein und Beate Blechinger begonnen“, sagt ein Strafverteidiger aus der Prignitz.

Auch aus dem brandenburgischen Justizministerium heißt es, dass es Zeit brauche, die seit 1995 auch in Zeiten einer CDU-Mitregierung angeordneten Personaleinsparungen von mehr als 1800 Stellen wieder auszugleichen. „Doch ab 2017 haben wir die Trendwende geschafft“, sagt Sprecher Uwe Krink. So seien 2018 insgesamt 33 Proberichterinnen und -richter eingestellt worden. In diesem Jahr sind bisher bereits fünf hinzugekommen, weitere sollen eingestellt werden.

Knispel: "Eine Kapitulation des Rechtsstaats"

Kann man also in Zukunft einen „Fall Schneider“ ausschließen? Das müsse man gar nicht, sagt der Strafverteidiger aus der Prignitz: Seiner Ansicht nach stellt die zeitweilige Freilassung von Maik Schneider aus der U-Haft auch kein „Versagen des Rechtsstaats“ dar: „Im Gegenteil! Auch wenn so etwas wehtut, ist es ja trotz allem gerade ein Zeichen dafür, dass der Rechtsstaat funktioniert und eben keine Willkür herrscht.“

Andere Kollegen widersprechen. Wenn die Freilassung von Kriminellen ausschließlich aus dem Grund erfolge, dass die Justiz nicht hinterherkomme, sei das ein Armutszeugnis, meinen sie.

„Es ist letztlich eine Kapitulation des Rechtsstaats“, sagt Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, der Vorsitzende der Vereinigung Berliner Staatsanwälte: „Die Bevölkerung hat einen Anspruch auf die Verfolgung von Kriminellen und wenn es wie in Berlin Jahre dauert, bis ein Berufungsurteil vorliegt, trägt das nicht gerade zum Ansehen der Justiz bei.“

In der Hauptstadt, sagt Knispel, sei die Situation nämlich nicht besser als in Brandenburg: Auch hier müssen Straftäter wegen zu langer Verfahrensdauer entlassen werden, auch hier dauern Prozesse manchmal Jahre. Knispel verweist etwa auf die Verhandlung zum „Rockermord in der Residenzstraße“. Allerdings hält er dem Berliner Justizsenator zugute, dass er gerade noch einmal 20 neue Staatsanwälte eingestellt hat. „Das reicht zwar immer noch nicht aus“, sagt Knispel. „Aber es verringert die Belastung ein wenig.“

Brandenburg und Berlin hätten wenigstens schon mit dem Gegensteuern begonnen, geben die Kritiker zu. Das ist nicht überall so. Laut Deutschem Richterbund braucht die Justiz in der Bundesrepublik insgesamt mindestens 2000 zusätzliche Richter und Staatsanwälte. Und zwar dringend.

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