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Eine Demonstranten vor dem Bildungsministerium in Warschau setzt sich für das Recht auf Abtreibung in Polen ein.

© Wojtek RADWANSKI / AFP

Verschärftes Abtreibungsgesetz in Polen: Ungewollt Schwangere suchen verstärkt Hilfe in Berlin

Maria Owczarz vermittelt Polinnen, die abtreiben wollen, einen Schwangerschaftsabbruch in Berlin. Bevor sie hierher zog, war sie selbst gegen solche Eingriffe.

Das Telefon von Tante Barbara klingelt in den letzten drei Wochen besonders häufig. Auch ihr E-Mail-Postfach füllt sich deutlich schneller als früher. Ihr Rat ist nun erst recht gefragt. Tante Barbara, auf Polnisch Ciocia Basia, heißt eine 2015 gegründete Organisation, die ungewollt Schwangeren aus Polen hilft, in Berlin abzutreiben.

In Polen gilt ohnehin eines der strengsten Abtreibungsgesetze Europas. Doch am 22. Oktober urteilte unter anderem die konservative polnische Verfassungsrichterin Julia Przylebska, dass das Gesetz verfassungswidrig ist. Es erlaubte Schwangeren bisher, Föten mit Fehlbildungen, die nach der Geburt nicht überleben würden, abzutreiben. Das ist nun auch verboten.

Ausnahmen bestehen weiterhin, wenn die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung entstand oder Lebensgefahr für die Schwangere besteht. Offiziell treiben rund 1000 Frauen pro Jahr in Polen ab, die Dunkelziffer liegt aber, so vermuten es viele, höher.

„Personen, die bis vor Kurzem noch in Polen abtreiben konnten, sind nun ratlos und wissen nicht weiter“, sagt Maria Owczarz. Sie engagiert sich seit zwei Jahren bei Ciocia Basia in Berlin und berät ungewollt Schwangere, begleitet sie – wenn sie das wollen – durch den Prozess der Abtreibung in Berlin.

Mal vermittelt sie lediglich einen Termin für das verpflichtende Beratungsgespräch und den Operationstermin in einer Klinik, die Abbrüche vornimmt. Mal bucht sie die Reise der Schwangeren nach Berlin, holt sie ab und vermittelt polnische Übersetzer. Die Organisation bezahlt bei Bedarf auch den Eingriff, finanziert aus Spendengeldern. Das hängt von den Bedürfnissen der Hilfesuchenden ab.

Auch Gläubige kommen zu Ciocia Basia

Aktuell kommen drei bis sieben Personen pro Woche aus Polen nach Berlin, wie Owczarz sagt. Ein großer Bestandteil ihrer Arbeit sind aber auch Beratungsgespräche am Telefon, bei denen sie emotionalen Beistand leistet. Owczarz hat in den vergangenen zwei Jahren die verschiedensten Frauen, Trans-Personen und Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, beim Schwangerschaftsabbruch begleitet.

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„Es kommen Personen zu uns, die 17 sind und ihr erstes Mal hatten, bei dem alles schieflief. Aber es kommen auch Personen, die dachten, dass sie gar nicht mehr schwanger werden können“, erzählt sie.

Auch Gläubige würden die Hilfe von Ciocia Basia suchen, sagt Owczarz. Die Katholische Kirche hat in Polen großen gesellschaftlichen Einfluss. Aber sie ist auch politisch wirkmächtig: Die konservative Regierungspartei PiS steht der Kirche nah, ermöglicht geistlichen Vertretern Lobbyarbeit im Parlament. Abtreibungen werden als Angriff auf die Unversehrtheit des von Gott gegebenen Lebens gesehen.

Maria Owczarz war früher selbst gegen Abtreibungen

Bevor Maria Owczarz mit 19 Jahren zum Studieren nach Berlin kam, war sie selbst gegen Abtreibungen. Erst mit dem Orts- und Mentalitätswechsel wurde ihr bewusst, dass sie die christlich-konservativen Denkmuster zu Themen wie Abtreibung verinnerlicht hatte.

„Ich habe erst hier gemerkt, wie sehr mich der Religionsunterricht in Polen beeinflusst hat“, sagt Owczarz. Sie, die sich als queere Person definiert, stellte damals auch fest, wie sehr sie Homophobie und konservative Geschlechterbilder geprägt hatten.

Maria Owczarz engagiert sich seit zwei Jahren bei Ciocia Basia und vermittelt Abtreibungen an Polinnen in Berlin.

© Sierra Bisgould

„Je mehr ich das merkte, umso wütender wurde ich“, sagt sie. „Diese Wut wollte ich produktiv nutzen.“ Und das ist der Aktivismus bei Ciocia Basia für sie: „Ich kann Personen in einer sehr kurzen und intensiven Zeit konkret weiterhelfen. In dem Sinne ist der Aktivismus auch egoistisch – man fühlt, dass man selbst etwas bewirken kann.“

Aus Owczarzs Sicht ist in Polen die Stigmatisierung von Schwangeren, die abtreiben, das größte Problem. „Viele, die zu uns kommen, reden nur mit uns darüber. Sie sagen, dass sie vermutlich niemals in Polen darüber reden werden.“

Eröffnen Demonstrationen einen Weg zum Dialog?

Seit der Gesetzesverschärfung gehen Tausende Polinnen und Polen in großen Städten wie Warschau und Krakau gegen das De-facto-Verbot auf die Straße. Aber auch in kleineren Orten im Süden und Osten des Landes, wo die PiS-Partei ihre Stammwählerschaft hat, formieren sich Proteste. „Ich wünschte, ich könnte meine Regierung abtreiben“, skandierten Frauen und Männer etwa.

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Owczarz hofft, dass die Demonstrationen einen Dialog anstoßen. „Vielleicht gehen Leute, die abgetrieben haben, zu den Protesten. Vielleicht sehen sie dort Freunde und merken, dass sie doch über ihre Abtreibung reden können.“ So könnte es Betroffenen gelingen, der emotionalen Isolation nach einem Abbruch zu entkommen.

Auf lange Sicht wünscht sich Owczarz, dass die katholische Kirche keinen Einfluss mehr auf polnische Politik nimmt. Und dass Abtreibungen legalisiert werden. „Ich schöpfe Hoffnung, wenn ich sehe, wie viele Menschen, auch queere Personen, sich für das Abtreibungsrecht einsetzen“, sagt sie. „Und ich bin begeistert davon, wie stark sie sind und wie viel Liebe in dem Aktivismus steckt.“ Die Revolution ist eine Frau, sage man jetzt in Polen.

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