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Sehnsuchtsort Tempelhof. Er ist der Ausgangspunkt für die Erzählung.

© Die Autoren und Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber GNA gGmbH, 2021

Tempelhof als Comic-Utopie: Ein bildgewaltiger Traum von einer besseren Zukunft

Vor fünf Jahren kam Sartep Nadiq als Flüchtling in der Berliner Massenunterkunft an. Seine Geschichte inspirierte zu einem Comic

In der Hoffnung, hier ein besseres, sichereres Leben führen zu können als in seiner Heimat, kam der kurdische Iraker Sartep Namiq als Flüchtling vor fünf Jahren nach Berlin. Ein gutes Jahr musste er in der Massenunterkunft des Tempelhofer Flughafens bleiben. Mit 900 anderen Menschen mit den unterschiedlichsten Schicksalen lebte er in  der Enge der Zeltstadt, die in einem Hangar aufgebaut war, eigentlich nur eine Unterkunft für wenige Wochen sein sollte und in der Privatsphäre ein Fremdwort war.

„Die konkrete Situation in Tempelhof habe ich mir zwar vor meiner Ankunft nicht so ausgemalt, aber mir war klar, dass es nicht einfach werden würde. Ich war ja alleine und kannte weder die Sprache noch die Kultur. Ich war also auf eine schwere Zeit gefasst, war mir aber auch sicher, dass ich sie überstehen würde“, sagt Namiq.

Was nun? Der Traum vom besseren Leben
Was nun? Der Traum vom besseren Leben

© Foto: Die Autoren und Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber GNA gGmbH

Mit anderen Flüchtlingen kam Namiq damals in Kontakt mit der „Gesellschaft der Neuen Auftraggeber“. Diese Initiative, die in verschiedenen europäischen Städten aktiv ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen dabei zu unterstützen, Kunstprojekte zu realisieren, Künstler dafür zu engagieren und somit zu einem „Neuen Auftraggeber“ zu werden. Wo die Initiative überall aktiv ist, können Sie auf ihrer Website erfahren.

Der Comic soll universell verstanden werden

Bald schon stellte sich heraus, dass Namiq einen ganz bestimmten Traum hatte. Er hatte in Tempelhof erlebt, dass viele Menschen nicht mehr hoffnungsvoll in die Zukunft schauten, dass sie ihren Mut verloren hatten. Den wollte er ihnen gerne wiedergeben. Namiq stellte sich vor, ihnen eine Geschichte in Bildern zu erzählen, die ohne Worte auskommt und so auch universell verstanden werden kann. Alexander Koch von der Gesellschaft der Neuen Auftraggeber brachte Namiq zusammen mit einem wichtigen Autor der Science-Fiction-Szene: Bruce Sterling, Mitbegründer der Cyberpunk-Literatur. Dieser schrieb das Skript für den Comic. Namiq erzählte von seinen Erfahrungen, von seiner Mutter, fotografierte für ihn Details aus seinem täglichen Leben in Tempelhof.

Aus dem Irak nach Berlin. Sartep Nemiq kam 2016 als Flüchtling nach Deutschland und landete in der Unterkunft im Tempelhofer Flughafen.
Aus dem Irak nach Berlin. Sartep Nemiq kam 2016 als Flüchtling nach Deutschland und landete in der Unterkunft im Tempelhofer Flughafen.

© Victoria Tomaschko

Das fertige Skript wurde in den kurdischen Dialekt Sorani übersetzt, Namiqs Muttersprache. So konnte dieser die Geschichte überprüfen und kommentieren. Die persönliche Geschichte eines junges Mannes, der sich aufgemacht hat in eine fremde Stadt mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft wird eine utopische Science-Fiction-Erzählung „Temple of Refuge“. Aus der realen Massenunterkunft im Flughafen Tempelhof wird ein Slum vor den Toren eines futuristischen Berlin, in dem die Menschen Elend und Ablehnung erfahren, aber auch Solidarität und Freundschaft erleben. Jetzt fehlte nur noch der Künstler, der die Geschichte bildlich umsetzte und zum Leben brachte.

Aus 30 Seiten wurden 84

Eines Abends klingelte also im süddeutschen Ludwigsburg bei dem Comiczeichner Felix Mertikat das Telefon. Alexander Koch fragte nach, ob er einzelne Sequenzen der Geschichte übernehmen wolle. Mertikat fand das Projekt spannend, sagte zu. Im Lauf der Entstehung des Buches wurde sein Anteil immer größer, bis feststand, dass er es komplett zeichnen würde, nur die Farbe steuerte ein weiterer Künstler bei. Zunächst waren 30 Seiten vereinbart, DIN A5. Es wurden letztlich 84 Seiten, DIN A4.

Fluchterfahrung. Er lange Weg aus der Heimat nach Berlin.
Fluchterfahrung. Er lange Weg aus der Heimat nach Berlin.

© Die Autoren und Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber GNA gGmbH, 2021

„Ich habe mich mitreißen lassen“, sagt Mertikat. Er  traf in Berlin mit Namiq zusammen, war begeistert von seinem „Spirit“, dass dieser hier etwas aufbauen wollte. Reizvoll war auch, dass es ein Comic ohne Wort werden sollte. Denn egal für welche Sprache man sich entschieden hätte, es wäre immer eine große Gruppe von Menschen ausgeschlossen worden.

Der Zeichner. Felix Mertikat setzte die Geschichte in Bilder um.
Der Zeichner. Felix Mertikat setzte die Geschichte in Bilder um.

© Promo

Jetzt blieb also der ganze Platz für die Bilder; der Künstler musste nicht überlegen, wo er die Schrift platzieren würde. Aber es wurde auch eine große Herausforderung, selbst für einen erfahrenen Zeichner wie Mertikat: „Man lernt das Wort zu schätzen, wenn man es nicht hat.“ Für Namiq, der weiter in Berlin lebt, eigentlich in einem Restaurant arbeitet und derzeit auf Wohnungssuche ist, war es ein großer Moment als er  die fertigen Zeichnungen – da noch ohne Farbe – das erste Mal sah: „Ich war vor allem aufgeregt, dass der Comic jetzt tatsächlich Gestalt annimmt. Den ganzen Weg nach Hause musste ich darüber nachdenken, wie unglaublich gut er geworden ist. Und als ich dann später die kolorierte Fassung gesehen habe, konnte ich es nicht fassen.“

Ankunft in Berlin. Einer Stadt der Zukunft.
Ankunft in Berlin. Einer Stadt der Zukunft.

© Die Autoren und Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber GNA gGmbH, 2021

Förderung für das Projekt gab es vom Institut für Auslandsbeziehungen, dem Auswärtigen Amt und der Fondation de France. Die Egmont Comic Collection veröffentlicht im Rahmen des Non-Profit Projekts die Hardcover-Version des Comics. Der Erlös aus dem Verkauf  kommt der  Hilfsorganisation Sea-Watch e.V. zugute, die im Mittelmeer geflüchtete Menschen in Seenot rettet. „Temple of Refuge“ (ISBN: 978-3-7704-0115-4), gebundene Ausgabe, 10 Euro. Der Comic ist zudem in Gänze online abrufbar: temple-of-refuge.net. 

Freiexemplare gehen auch in den Nahen Osten und nach Nordafrika

Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber verschickt zudem 10.000 Freiexemplare an  Bibliotheken, Schulen und Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland, aber auch an Hilfsorganisationen und Kultureinrichtungen in Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas.

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+++ Die Themen der Woche:

  • Utopie Tempelhof: Comic nach der Geschichte des kurdisch-irakischen Flüchtlings Sartep Namiq
  • Bleibt der Süden ohne Anschluss?: Die Pläne der Bahn
  • Der Frauentag und die Schule: Aus dem Online-Tagebuch der Johanna-Eck-Schule
  • Sicherer unterwegs: Radspur auf der Kolonnenstraße
  • Wert und teuer: Kosten für das Beteiligungsverfahren Neue Mitte Tempelhof
  • Schulen für den Bezirk: Das wird gebaut
  • Zehn Jahre Spielhallengesetz: Das hat es im Bezirk gebracht

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