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Kilian Nauhaus, Kantor und Organist der Französischen Friedrichstadtkirche.

© Thilo Rückeis

An das Unmögliche glauben: So erlebte ein Organist die Zeit vor dem Mauerfall

Von Revolutionsbotschaften im Konzert, verschwundenen Freunden und dem Rausch der Freiheit: Unser Gastautor erinnert sich an die Zeit vor dem Mauerfall.

[Unser Gastautor Kilian Nauhaus ist seit 1987 Organist am Französischen Dom. Unter anderen als den DDR-Umständen würde er heute wohl woanders arbeiten, vermutet er: Wegen „staatsbürgerlicher Unzuverlässigkeit“ durfte er nicht an die Oberschule und ging ans Kirchliche Proseminar nach Naumburg]

Wenn ich an die Ereignisse von vor dreißig Jahren zurückdenke, so fällt mir zuerst ein für mich besonders markantes Erlebnis ein, nämlich mein erster Besuch im Kölner Dom. Es war einige Wochen nach der Maueröffnung, ich war knapp dreißig Jahre alt, und ständig ging mir ein Vers aus einem Lied von Robert Schumann nach einem Text von Heinrich Heine durch den Kopf, das ich seit meiner Kindheit liebe: „Holt mir auch zwölf Riesen, / die müssen noch stärker sein / als wie der starke Christoph / im Dom zu Köln am Rhein.“

Nun stand ich also vor der so besungenen herrlichen Christophorus-Figur und dachte: Endlich kann ich in Besitz nehmen, was Dummheit und Bevormundung mir bis ins Alter vorenthalten wollten. Den immer in der Seele gehegten Bildern antworteten nun Bilder, die ich mit Augen sehen konnte. Mit dem Mythos Westen, dem kollektiven Traum vom Wunderland, hatte das wenig zu tun.

Meine Freude über die offene Welt ist ungebrochen

Es war eher so, dass eine gefühlte kulturelle Identität nun Deckung durch die Realität erfuhr. Und der „starke Christoph“ wurde das Bild, an dem ich diese Seelenstimmung festmachte. Meine Freude über die offene Welt ist ungebrochen. Im grenzenlosen Berlin erlebe ich sie an jedem Tag neu.

Ich lebe hier seit 1987. Damals kam ich nach Studium und erster Anstellung mit meiner Familie aus meiner Heimatstadt Halle nach (Ost-)Berlin und trat meine Stelle als Kirchenmusiker am Französischen Dom an, die ich bis heute innehabe. Die Ereignisse von 1989 erlebten wir also hier in Berlin mit und wurden so Zeugen und Teilnehmer eines Geschehens von so umstürzendem Charakter, dass ich mein Leben bis heute in „vor 89“ und „nach 89“ einteile.

Konflikte mit dem staatlichen Vorgaben während der Schulzeit

Ich stamme aus dem christlichen Bürgertum der DDR. Konflikte mit den staatlichen Vorgaben begleiteten meine gesamte Schulzeit. Das begann in der 1. Klasse, als ich nicht zu den Jungen Pionieren ging, und setzte sich fort, bis mir nach der 10. Klasse der Übergang zur Oberschule verweigert wurde – wegen meiner „staatsbürgerlichen Unzuverlässigkeit“ und weil ich kein Arbeiterkind war. Das wurde tatsächlich in schöner Offenheit als Begründung ausgesprochen.

Kilian Nauhaus (links) 1975 beim Reformationstreffen der evangelischen Jugend in Magdeburg.
Kilian Nauhaus (links) 1975 beim Reformationstreffen der evangelischen Jugend in Magdeburg.

© privat

Meine Kindheit und Jugend empfinde ich im Rückblick dennoch als glücklich. Unsere Eltern gaben uns die Geborgenheit, die Kinder brauchen, und der Staat DDR vermochte ja nicht in alle Ritzen unseres Erlebens zu kriechen.

Besonders wichtig war für mich die evangelische Kirche. Die übliche Überlebensstrategie in der DDR war ja bekanntlich, das Allernötigste pro forma und mit kaltem Herzen mitzumachen und sich im Übrigen ins Private zurückzuziehen. Die Kirche habe ich nicht nur als Alternative zur herrschenden Einheitsideologie, sondern auch zur unpolitischen privaten Nischengesellschaft erlebt.

Theologie oder Kirchenmusik

Ihre relative Ferne zur staatlichen Macht gab ihr in unseren Augen eine gewisse moralische Autorität. Vor allem die kirchlichen oppositionellen Jugendgruppen der 70er Jahre wurden sehr prägend für mich. So entschloss ich mich 1977, nach der 10. Klasse, zum Besuch des Kirchlichen Proseminars in Naumburg. Das war eine vorzügliche Schule im Stil humanistischer Gymnasien, deren Abschlussprüfung aber staatlicherseits nicht als Abitur anerkannt wurde.

Die Alternative für mich lautete nach drei Jahren Proseminar: Theologie oder Kirchenmusik. Ich bin heute sehr gern Kirchenmusiker, wäre aber unter anderen als DDR-Bedingungen beruflich wohl nicht bei der Kirche gelandet.

Als wesentlich für die seelische Gesundheit erlebte ich die Drähte zur Welt außerhalb des geschlossenen Labors „real existierender Sozialismus“, also zu Freunden und Verwandten im Westen. Die Frage, ob man bleibt oder geht, beschäftigte uns seit früher Jugend eigentlich permanent. Wolf Biermanns Liedrefrain „Ich möchte am liebsten weg sein und bleibe am liebsten hier“ brachte das Lebensgefühl auf den Punkt. Es war deprimierend, wie in den achtziger Jahren immer mehr Leute aus dem Freundeskreis verschwanden.

Unser Dableiben geschah aus einem Konglomerat von Gründen, edlen und weniger edlen: Dass wir Menschen zurückgelassen hätten, die uns wichtig waren, spielte eine wesentliche Rolle, Liebe zu Städten und Landschaften, Hoffnung auf Veränderung in der DDR, das Gefühl, es dürften doch nicht alle weglaufen, die Überzeugung, authentisches Leben sei fast überall möglich, aber auch der Mangel an Entschlusskraft und Angst vor Repressalien nach der Stellung des Ausreiseantrags.

Leonard Bernstein mit dem Revolutionsruf

Nun waren wir also in Berlin, und dramatische Veränderungen kündigten sich an. Ein paar Streiflichter, die mir ins Gedächtnis kommen: Am 14. Juli 1989 erlebe ich im Konzerthaus Leonard Bernstein, der, bevor er den Taktstock hebt, ins Publikum ruft: „Vive la révolution!“ – scheinbar eine Hommage an den 200. Jahrestag der Französischen Revolution, aber alle im Saal beziehen es auf die Stimmung im eigenen Land und klatschen bereits vor dem ersten Ton frenetisch. Am 7. und 8. Oktober sind wir bei den Demonstrationen an der Gethsemanekirche dabei.

Kilian Nauhaus an der Orgel in der französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte.
Kilian Nauhaus an der Orgel in der französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte.

© Thilo Rückeis

Am 12. Oktober spiele ich dort vor 4000 Leuten bei einer der legendären Mischveranstaltungen aus Andacht und oppositionellem Politikmeeting, die in diesen Tagen dort stattfinden, die Orgel. Unsere elfjährige große Tochter ist dabei und ist beeindruckt von der Atmosphäre dort. Drei Wochen später haben wir ein frappierendes Gespräch mit ihrem Klassenlehrer, den wir immer als besonders sturen Betonkopf erlebt hatten und der nun plötzlich für „den Westen“ ist. Und unsere jüngere, dreijährige Tochter ruft beim Einschlafen: „Demonstratie, jetz’ oder nie!“ Die Ereignisse von vor dreißig Jahren werden heute fast ausschließlich unter dem Blickwinkel des Mauerfalls und der Wiedervereinigung gesehen.

Demokratisierung der DDR als nahes ZiKel

Worum es uns damals aber zunächst ging, war eine Demokratisierung der DDR, eine innere Öffnung dieses erstarrten Landes. Das war das Anliegen der Bürgerrechtler, der Friedensbewegung, der in Leipzig, Berlin und anderswo sich gegen die staatlichen Repressalien zur Wehr Setzenden.

Eine äußere Öffnung erschien uns lediglich als notwendiger Teil dieses Prozesses. Dass es von heute aus betrachtet naiv erscheint neben dem übermächtigen und verlockenden Westen ein Land wie die DDR in Ruhe reformieren zu wollen, schmälert nicht das Verdienst derer, die es damals versucht haben. Der Mauerfall am 9. November war für mich auch gar nicht unbedingt das zentrale, alles umstürzende Ereignis – obwohl wir die Öffnung der Mauer an der Bornholmer Brücke miterlebten und in der Folgezeit den Freiheitsrausch natürlich intensiv genossen. Dennoch erschien mir der Fall der Mauer eher als logische Folge des in den Wochen davor bereits Erreichten.

Die erste freie Demonstration

Mein wichtigstes Datum in diesen Monaten ist ein anderes, nämlich der 4. November, als wir auf dem Alexanderplatz die erste freie und nicht staatlich gelenkte Demonstration im Lande miterlebten. Um Wiedervereinigung ging es dort nicht, auch die Reisefreiheit war nur eine Forderung unter mehreren.

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich über ein Zeitereignis so etwas wie Glück empfand: Mit einem Mal hatten die Leute keine Angst mehr, trauten sich heraus, Bedrückung und Enge waren wie weggeblasen, gesammelte Kreativität und Fantasie zeigte sich in den mitgebrachten Plakaten, die graue Einheitsfarbe der muffigen DDR wich einer nie geahnten Buntheit, und der alte Stefan Heym fand dafür die prägende Formel, als er seine Rede mit den Worten begann: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen.“

In diesen Worten kulminiert für mich der Herbst 1989. Er bleibt mir unvergesslich als eine Zeit des Aufbruchs und der Utopie, als eine Zeit des träumerischen Glaubens an das Unmögliche.

Kilian Nauhaus

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