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Frauen laufen in Berlin-Kreuzberg auf dem Bürgersteig.

© Kay Nietfeld/dpa

Sinkende Impfbereitschaft in Berlin: Schuld ist nicht die Migrationsgeschichte

Menschen mit Migrationsgeschichte stehen immer wieder im Verdacht, die Impfquote zu drücken. Dabei ist Impfmüdigkeit eigentlich keine Frage der Herkunft.

Adiba Hashem ist aufgebracht. Immer wieder hebt sie, die ihren Namen nicht öffentlich nennen will, ihren penibel manikürten Zeigefinger über den Teller mit Schokoladen- und Sesamkeksen, der vor ihr steht. Daneben liegen bunte Ausdrucke mit Informationen zur Impfung und möglichen Nebenwirkungen, Hashem beachtet sie kaum. Seit Kurzem muss geimpft, genesen oder getestet sein, wer wie Hashem in den Mamatreff im Märkischen Viertel kommen möchte, deswegen soll es an diesem Dienstagvormittag kurzfristig um die Corona-Impfung gehen.

Hashem will davon nichts wissen. Sie stellt sich kurz auf Deutsch vor, spricht dann auf Arabisch weiter. Sie wolle sich nicht impfen lassen. Hashem glaubt nicht an die Impfung, genauso wenig, wie Hashem dem Staat glaubt, der experimentiere nur mit den Menschen. „Ich bin geschockt, wie wenig Vertrauen sie in die Regierung hat“, sagt Stadtteilmutter Najwa Allaf, während sie für Hashem aus dem Arabischen übersetzt. So vehement wie Hashem wehrten sich die Menschen, die sie betreut, sonst nicht gegen die Corona-Impfung.

Mehr als 140 Stadtteilmütter gibt es in ganz Berlin, seit Anfang 2020 fördert der Senat das Projekt landesweit. Sie haben selbst Migrationsgeschichte und beraten Familien im Kiez in der gemeinsamen Muttersprache, bei Hausbesuchen etwa, in Pandemiezeiten auf dem Spielplatz oder bei Angeboten wie dem Mamatreff im Märkischen Viertel.

Inzwischen sei auch immer wieder die Impfung gegen das Coronavirus Thema bei Beratungsgesprächen, berichten die Stadtteilmütter. Nur sehr wenige lehnten eine Beratung über die Impfung wirklich ab, Impfgegner:innen wie Adiba Hashem seien Einzelfälle.

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Impfen ist in Berlin aktuell so einfach wie nie seit Beginn der Corona-Pandemie, trotzdem sinkt die Impfbereitschaft. Immer wieder werden dafür Menschen mit Migrationsgeschichte verantwortlich gemacht, insbesondere Geflüchtete. „Unter ihnen ist die Impfbereitschaft höchst miserabel“, sagt Patrick Larscheid. Er ist Amtsarzt in Reinickendorf, wo auch die Erstanlaufstelle für Asylsuchende liegt.

Es gibt keine offiziellen Zahlen

Noch im Juli machte Larscheid türkische Reiserückkehrer für steigende Inzidenzen verantwortlich, ruderte inzwischen aber zurück. Bei „etablierten Menschen mit Migrationshintergrund“ wisse man nicht, wie es um die Impfbereitschaft stehe. „Vieles ist nur Beobachtung und Stimmung“, sagt Larscheid.

In Mitte, Neukölln, Tempelhof-Schöneberg oder Friedrichshain-Kreuzberg leben viele Menschen mit Migrationsgeschichte. In keinem der Bezirke gibt es offizielle Zahlen dazu, wie viele davon sich bisher impfen ließen, auch in Larscheids Bezirk Reinickendorf nicht.

Dass Menschen mit Migrationsgeschichte weniger impfbereit seien, sei „reine Spekulation“, sagt etwa Knut Mildner-Spindler (Linke), stellvertretender Bezirksbürgermeister in Friedrichshain-Kreuzberg und dort für Gesundheitsfragen zuständig. „Alles, was ich höre und lese, so erscheint es mir, sind Bauchgefühle.“

Taman Noor ärgern solche Vorurteile. Der Sozialarbeiter leitet das Interkulturelle Aufklärungsteam (IKAT) in Neukölln, das in 13 verschiedenen Sprachen Fragen zur Corona-Pandemie beantwortet. Vorbehalte gegen die Impfung, erzählen Noor und sein Team, begegnen ihnen nicht nur in migrantischen Communities. Wenn es darum gehe, ob Menschen sich impfen ließen, sei Migrationsgeschichte meist nicht entscheidend. „Da sind andere Faktoren im Spiel. Es geht hier auch um Bildungsnähe und Bildungsferne.“

Der Neuköllner Amtsarzt Nicolai Savaskan spricht von Migration als einer „Störvariable“, wenn es um die Impfbereitschaft gehe – auch wenn Menschen mit Migrationshintergrund oft einen bildungsferneren Status hätten als die deutsche Mehrheitsgesellschaft.

Taman Noor (rechts) leitet seit September 2020 das Interkulturelle Aufklärungsteam in Neukölln.
Taman Noor (rechts) leitet seit September 2020 das Interkulturelle Aufklärungsteam in Neukölln.

© promo

„Die Rahmenbedingungen sind entscheidend“, sagt auch Falko Liecke (CDU), stellvertretender Bürgermeister in Neukölln und als Stadtrat für Jugend und Gesundheit zuständig. Ob Menschen sich gegen Corona impfen ließen, dafür sei der Zugang zu Informationen relevant, aber auch der Bezug von Transferleistungen und beengte Lebens- und Wohnverhältnisse. Die herrschen zum Beispiel in der Neuköllner High-Deck-Siedlung oder im Märkischen Viertel. 2019 lag der Anteil der Menschen mit Migrationsgeschichte dort mit knapp 51 Prozent über dem Berliner Durchschnitt.

Bedenken stillender Mütter

In den Mamatreff im Märkischen Viertel kommt am Dienstagvormittag auch eine junge Mutter aus dem Libanon. Sie spricht nur wenig Deutsch, erst mit der Stadtteilmutter Najwa Allaf kommt sie ins Gespräch. Sie würde sich gern impfen lassen, sagt sie auf Arabisch, während sie Zucker in ihren Latte Macchiato rührt. Leise erzählt sie, ihr Leben wäre einfacher, wenn sie sich nicht mehr ständig testen lassen müsste.

Aber sie hat Bedenken, ihres Babys wegen, das sie stillt. Vor drei Jahren ist die junge Frau aus dem Libanon nach Berlin gekommen. Einen Hausarzt, den sie wegen der Impfung fragen könnte, hat sie nicht. Dorothea Petersen isst einen Sesamkeks, während sie der Libanesin zuhört. Petersen koordiniert die Arbeit der Stadtteilmütter im Märkischen Viertel. Ihr zufolge hätten viele Menschen mit Migrationsgeschichte keinen Arzt und wüssten nicht, mit wem sie über die Impfung sprechen könnten, wem sie vertrauen könnten.

Nicht die Migrationsgeschichte an sich ist der Grund für eine geringe Impfbereitschaft, da sind sich Bezirke, Stadtteilmütter und das IKAT einig. Vielmehr bedingten Verständigungsprobleme und oftmals unsichere Lebensbedingungen in einem Land, in dem sie nicht geboren seien, dass Menschen mit Migrationsgeschichte zögerten, sich impfen zu lassen. Angebote wie das IKAT oder die Stadtteilmütter sollen helfen. Sie leisten zwar keine medizinische Beratung, können aber bei Sprachproblemen vermitteln.

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Oft sei bei Menschen mit Migrationsgeschichte die Sprache entscheidend, wenn es darum geht, sich zu informieren, sagt der Neuköllner Gesundheitsrat Liecke. „Sie schauen Aljazeera statt Abendschau.“

In Lieckes Bezirk arbeitet der Psychologe Kazim Erdogan seit Langem vor allem mit Männern aus migrantischen Communities, er hat den Verein Aufbruch Neukölln gegründet. „Natürlich sollten alle Deutsch reden“, sagt Erdogan, „aber es ist ein Fakt, dass viele Menschen, die Zuwanderungsgeschichte haben, der deutschen Sprache nicht mächtig sind.“ In der Folge sprächen viele lieber mit Bekannten oder informierten sich in Chatgruppen oder den sozialen Medien, statt direkt mit einem Arzt zu sprechen, sagt auch das IKAT.

Bezirke setzen auf Flyer und Multiplikator:innen

Vielen Bezirken ist das bewusst. Einige versuchen, Informationslücken zu schließen, die von Verständnisproblemen herrühren. Sie setzen auf mehrsprachige Flyer, aber auch auf sogenannte Multiplikator:innen – Menschen also, die anders als die Ämter in direktem Kontakt zu den Menschen im Bezirk stehen, ihr Vertrauen genießen.

Die Stadtteilmütter sind solche Multiplikator:innen, auch Kazim Erdogan ist einer. Er hat mit Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) ein Video aufgenommen, in dem er auf Türkisch zum Impfen aufruft. Ähnliche Videos gibt es auf der Webseite des Neuköllner Bezirksamtes auf Arabisch, Rumänisch und Bulgarisch, aber auch auf Berlinerisch.

Unter den Videos versucht der Bezirk, die gängigsten Verschwörungstheorien um den Impfstoff zu entkräften. Auch dafür gibt es Übersetzungen. „Es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise, dass die Schutzimpfung die Fruchtbarkeit von Frauen gefährdet“, heißt es dort zum Beispiel.

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Bei Adiba Hashem im Märkischen Viertel scheint diese Information nicht angekommen zu sein. Sie erzählt im Mamatreff, sie möchte noch weitere Kinder. Nach der Impfung, habe sie gehört, gehe das nicht mehr. Solche Verschwörungstheorien halten sich hartnäckig, berichtet Taman Noor. Seit einem Jahr ist er mit dem IKAT in Neukölln unterwegs. „Was sich nicht geändert hat, ist die Intensität und Häufigkeit der Falschinformationen“, sagt Noor.

Die meisten Menschen, die Taman Noor und das IKAT in Sachen Impfung beraten, informierten sich über Soziale Medien, sagt er. „Egal, in welcher Community, viele informieren sich über Youtube oder Facebook. Dort sind sie einem Strom von Falschinformationen ausgeliefert“, sagt Noor. „Die ‚Plandemie‘ ist das beste Beispiel“, sagt Noor. „Der Glaube daran, dass das alles geplant ist und größere Mächte im Spiel sind.“

Ähnliches erzählen auch die Stadtteilmütter. In Reinickendorf heiße es in Chatgruppen, dass China mit der Impfung die DNA der Menschen stehlen wolle. Auch in Mitte verbreiteten sich Falschnachrichten über soziale Medien schnell, zum Beispiel das Gerücht, dass die Impfung unfruchtbar mache. „Viele machen sich nicht die Mühe, richtig zu recherchieren“, vermutet Taman Noor. „Oder sie haben es nie wirklich gelernt.“

Falschinformationen kursieren auch in deutschen Gruppen

Das aber ist bei Weitem kein Problem, das sich auf Menschen mit Migrationsgeschichte beschränkt, auch das sagen Noor und die Stadtteilmütter. Falschinformationen kursieren in sozialen Medien genauso in deutschen Gruppen und auch auf Querdenken-Demonstrationen ist der Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte meist eher gering.

Anders als so manche Querdenker:in wollen die meisten von Noors Klient:innen verstehen, „was wahr ist und was Quatsch“, sagt er. Sie seien lediglich verunsichert, weil so viele Geschichten über die Impfung kursierten.

Von Unsicherheit erzählen auch Stadtteilmütter aus anderen Bezirken. In Marzahn beispielsweise warteten viele Familien erst einmal ab, wie es anderen ergehe, die sich bereits geimpft seien. Die meisten Familien hätten Angst vor Nebenwirkungen, heißt es aus Mitte und Reinickendorf.

Viele hätten Vorbehalte gegen die Impfung, weil diese noch nicht lange genug getestet worden sei. Multiplikator:innen wie das IKAT und die Stadtteilmütter können direkt über solche Vorbehalte und Unsicherheiten sprechen und auf Augenhöhe Fragen beantworten. „Die Stadtteilmütter sind für ihre Community diejenigen, die mit einem Pro-Impf-Gedanken reingehen und versuchen, Ängste zu nehmen“, sagt Dorothea Petersen.

Das Hauptthema in ihren Beratungen, das berichten fast alle Stadtteilmütter, sei die Corona-Impfung nicht. Einige Familien hätten dringlichere Probleme, ihre Lebenssituation sei nicht sicher, sie hätten finanzielle Schwierigkeiten. Berieten die Stadtteilmütter dann aber doch, funktioniere das gut, die meisten Ängste ließen sich ausräumen.

Knapp zwei Drittel der 18- bis 59-Jährigen Berliner:innen sind inzwischen vollständig geimpft, bis zur Herdenimmunität fehlen also noch einige Prozent. Es gebe immer noch eine „graue Masse“, sagt der Reinickendorfer Amtsarzt Larscheid, die man bisher nicht erreicht habe. Herkunft spiele dabei keine große Rolle mehr, auch Bildung nur eine untergeordnete. „Diese Menschen sind sozial nicht aktiv“, sagt Larscheid. Gerade das mache es so schwierig, sie zu erreichen. Dabei könnten gerade sie am Ende entscheidend sein.

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