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Im Jahr 2018 gab es in Berlin 768 Anzeigen wegen schwerer Sexualdelikte.

© Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Wo der Rechtsstaat versagt: Sexualstraftäter werden häufig nicht verurteilt

Sind Polizisten und Richter ausreichend qualifiziert, um Sexualstraftaten angemessen zu beurteilen? Nein, findet der Berliner Opferbeauftragte Roland Weber.

Das Urteil des Berliner Opferbeauftragten Roland Weber fällt vernichtend aus: Bei der Strafverfolgung sexueller Gewalt versage der Rechtsstaat. „Für echte Veränderungen braucht es auch echte Veränderungen bei der Politik, Polizei und Justiz“, sagt Roland Weber. Viele Polizeibeamte und Richter verfügten nicht über die notwendige Qualifikation, um Sexualstraftaten angemessen zu beurteilen.

Webers Vorwurf, dass die niedrige Verurteilungsquote bei den Sexualstraftaten unter anderem auf die nicht sachgerechte Bearbeitung auf den Abschnitten zurückzuführen ist, weist die Pressestelle der Berliner Polizei zurück. Den Dienstkräften sei bewusst, dass die Bearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ein besonderes Maß an Einfühlungsvermögen verlange.

Auf den Abschnitten und Funkwagen würden in der Regel lediglich Befragungen im Rahmen der Sofortbearbeitung erfolgen. Dazu zählten Fragen zum Tathergang, Täter und die Sicherung von wichtigen Spuren.

Es sei unvermeidbar, dass diese Fragen nicht nur das Schamgefühl der betroffenen Person, sondern auch die erlittenen physischen und psychischen Verletzungen berühren. „Ein Merkblatt gibt Hinweise zum einfühlsamen, aber notwendigen Vorgehen bei entsprechenden Anliegen“, heißt es von der Pressestelle. Den Opfern würden beim ersten Kontakt umgehend ein Opferschutzmerkblatt ausgehändigt und Hilfsangebote unterbreitet.

Eine ausführliche Vernehmung erfolge grundsätzlich nur durch das spezialisierte Landeskriminalamt 13. Das LKA 13 verfüge zwar über keinen Dauerdienst, die Sofortbearbeitung sei aber über die Einsatzkräfte in den Abschnitten, Funkwagen und des Kriminaldauerdienstes gewährleistet. Im Notfall sei das LKA 13 telefonisch auch nachts und an Wochenenden erreichbar.

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Der Opferschutzbeauftragte Weber kritisiert, dass er seit Jahren vergeblich fordere, auch erwachsene Opferzeugen regelmäßig per Video zu vernehmen. Dies könne Widersprüche in den Akten vermeiden helfen und eine Retraumatisierung der Opfer durch Mehrfachbefragungen verhindern. Die Polizei verweise stets auf fehlende Schreibkräfte und unzureichendes Material. Für eine Stunde Videovernehmung werden sechs Stunden Schreibarbeit veranschlagt.

Videovernehmungen sollen ausgeweitet werden

Wie oft im LKA 13 bei erwachsenen Opferzeugen eine Videokamera eingesetzt werde, sei statistisch nicht erfasst. Die Entscheidung obliege dem zuständigen Sachbearbeiter. Das LKA 13 könne ein Kindervideovernehmungszimmer auch für Erwachsene nutzen.

Seit Jahresbeginn stehen den Ermittlern außerdem zwei mobile Videovernehmungsanlagen zur Verfügung, die sie sich allerdings mit den acht Mordkommissionen in der Keithstraße teilen müssen. „Eine Ausweitung der audiovisuellen Vernehmungen ist gewollt und wird aktiv gefördert“, heißt es bei der Polizei.

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Für eine Auswertung der neuen Regelung zur Videovernehmung erwachsener Zeugen sei es viel zu früh, sagt Lisa Jani, Sprecherin der Berliner Strafgerichte. Seit Jahresanfang muss laut Strafprozessordnung die Vernehmung von Opfern sexueller Gewalt „nach Würdigung der dafür jeweils maßgeblichen Umstände“ aufgezeichnet werden und als richterliche Vernehmung erfolgen. Den Antrag muss die Staatsanwaltschaft stellen.

Im Jahr 2018 gab es in Berlin 768 Anzeigen wegen schwerer Sexualdelikte, also Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Übergriff im besonders schweren Fall. Aus den wenigen, zum Teil coronabeschränkten Monaten sei bekannt, dass einige Geschädigte die Videovernehmung als unangenehm empfunden hätten. „Seit Jahresbeginn wurden ungefähr ein Dutzend derartiger Vernehmungen durchgeführt“, sagt Jani.

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Für die Videobefragung von Beschuldigten und erwachsenen Zeugen stehen laut Gerichtssprecherin in Moabit sechs Ermittlungsrichter und eine mobile Anlage zur Verfügung. Derzeit werde eine Ausschreibung vorbereitet, um alle Ermittlungsrichterzimmer in Moabit mit Videoanlagen auszustatten. Da die Anträge perspektivisch zunehmen werden, beobachte man sehr genau, ob die Zahl der Ermittlungsrichter aufgestockt werden müsse.

Optimal wäre es laut Polizeipressestelle, könnten die Beamten durch eine nicht sehr tiefgreifende Erstvernehmung so viele Erkenntnisse gewinnen, dass eine richterliche Videovernehmung gut vorbereitet und möglichst zeitnah durchgeführt wird. „Diese könnte nicht nur die Aussage des Opfers in der Hauptverhandlung ersparen.“ So würden auch Mehrfachbefragungen und die damit verbundene Retraumatsierung vermieden.

Immer öfter werden minderjährige Opfer per Video vernommen

Die Videovernehmung Minderjähriger wird seit 2018 ausgebaut. Für die jungen Opfer sind sechs Ermittlungsrichter am Bereitschaftsgericht zuständig, die die jungen Zeugen in einem kindgerecht ausgebauten Zimmer vernehmen.

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Hat die Staatsanwaltschaft 2018 noch 33 Anträge gestellt, waren es im ersten Halbjahr 2020 bereits 63 Anträge. Nur in zehn Prozent der Prozesse sei eine Nachvernehmung der Kinder im Saal dann noch nötig gewesen. „Und dann häufig auch nur zu Nebenaspekten beziehungsweise zur gesundheitlichen Situation der Geschädigten“, sagt Jani.

Dass es oft zu streitbaren Urteilen komme, liege auch daran, dass die Justiz ihren Richtern keine hinreichenden Fortbildungen für Sexualstraftaten biete, sagt der Opferbeauftragte: „In Berlin haben junge Richter und Richterinnen am Amtsgericht über Sexualdelikte zu urteilen, obwohl sie keinerlei Fachkenntnisse oder Berufserfahrung im Bereich der Sexualdelikte vorzuweisen haben.“

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