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Thomas de Maizière wechselte 2018 vom Bundesinnenministerium zur Deutschen Telekom Stiftung.

© imago images/Future Image

Thomas de Maiziére zur Bildungspolitik: „Eine groteske Aufteilung der Zuständigkeit“

Brandbriefe begleiteten den zurückliegenden Bildungsgipfel, auch die Telekom-Stiftung schloss sich an. Deren Vorsitzender Thomas de Maizière hofft, dass der Veränderungswille nicht verpufft.

Herr de Maizière, im März bebte die Bildungsrepublik. Wegen des Lehrkräftemangels und der schlechten Schülerleistungen war in Brandbriefen von den Trümmern eines nicht reformfähigen oder nicht reformwilligen Bildungssystems die Rede. Wer ist schuld?
Das Eigenartige ist, dass es nicht so einfach ist, einen Schuldigen ausfindig zu machen. Vielmehr geben sich alle Beteiligten große Mühe: Lehrerinnen und Lehrer, Schulträger, Kultusministerien. Aber in der Summe gelingt es nicht, die Lage zu verbessern. Wenn das so ist, hat das mit den Gelingensbedingungen zu tun. Deshalb sind einzelne Reformen zwar wichtig, aber genauso wichtig ist, dass man sich das System anguckt. Und das zu ändern, ist höchste Zeit.

Wie könnte das konkret aussehen? Muss das Grundgesetz geändert werden oder ginge es auch unterhalb dieser Ebene?
Man muss natürlich nochmal versuchen, das Grundgesetz anzufassen. Die Aufteilung der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern ist grotesk. Im Hochschulbereich geht viel, im Bildungsbereich geht wenig. Aber ich muss zur Kenntnis nehmen, dass die Bereitschaft, das Grundgesetz zu ändern, gering ist. Daher muss man parallel andere Stellschrauben angucken.

Was schlagen Sie denn vor, um die Lage zu verbessern?
Es gibt keinen Königsweg. Man muss an vielen Stellen gleichzeitig anfangen und immer fragen: Wo kann man mit relativ wenig Aufwand viel erreichen? Für die Telekom-Stiftung haben wir drei Hauptbereiche für notwendige Veränderungen benannt. Der Schlüssel liegt darin, dass man die Schule und die Schulleitungen stärkt, ihnen mehr Eigenverantwortung gibt, parallel aber auch für Leistungstransparenz sorgt. Daneben muss es pädagogische Reformen geben und die Digitalisierung des Unterrichts. Was aufhören muss: die Mikrosteuerung der Schulen durch die Bürokratie der Aufsichtsbehörden.

Der frühere Berliner Bildungssenator Jürgen Zöllner hat vor über zehn Jahren die Entbürokratisierung versucht. Zuvor hatte es eine Schulgesetzänderung hin zu mehr Eigenverantwortung gegeben und einen viel beachteten Modellversuch. Alles verpuffte.
Stimmt. Man hat Entbürokratisierung und mehr Eigenverantwortung immer wieder versucht. Aber dafür braucht man Bedingungen – die im Ausland und an Privatschulen längst gang und gäbe sind. Man muss Verwaltungskräfte installieren und Systemadministratoren einstellen, damit sich die Schulleitungen auf das konzentrieren, was sie am besten können: Schulleitung und Unterricht. Eine Umfrage des Cornelsen-Verlags hat gezeigt, dass sich Schulleitungen genau das wünschen.

Sie haben kürzlich die Außerkraftsetzung aller Verwaltungsvorschriften gefordert, um mit der Entbürokratisierung ernst zu machen. Haben sich da bei Ihnen Verwaltungsexperten gemeldet und beklagt, dass das vollkommen utopisch sei und zu einem rechtsfreien Raum führen?
Ja, klar habe ich das gehört, dass „ausgerechnet die Büroklammer der Politik“ so etwas vorschlägt. Ich habe aber auch sehr viel Zustimmung von außerhalb der Verwaltung bekommen. Was ich will, ist die Umkehr der Beweislast. Anders ausgedrückt: Die Umkehrung vom Genehmigungs- und Widerspruchsvorbehalt – diese Denke verändert Schule.

Sollte man nicht noch das Bundesbildungsministerium direkt an das Kanzleramt andocken, damit endlich klar ist: Bildung ist Chefsache?
Davon halte ich wenig. Das Kanzleramt ist schon jetzt sehr groß. Die Vermehrung der Zahl der Staatsministerinnen und Staatsminister tut ein Übriges.

Die Bildungsministerien in den Ländern sind oftmals mit schwachem Personal besetzt. So entsteht der Eindruck, dass es eher ein Mitleidsposten ist und kein Posten für jemanden, der politische Durchsetzungskraft hat. Ist das auch ein Grund dafür, dass Deutschland in der Bildungspolitik so schlecht dasteht?
Grundsätzlich verdient das Thema politisch mehr Beachtung. Es hängt nicht nur am Personal, aber es stimmt schon: Von den jetzigen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten war keiner vorher für Bildung zuständig, eher für Finanzen oder Inneres.

Wie war das bei Ihnen? Sie haben doch nach der Wende als Staatssekretär für Bildung in Schwerin angefangen, waren später aber als Bundesminister für das Kanzleramt, für Inneres und für Verteidigung zuständig. Warum nicht für Bildung? Wollte die Kanzlerin Ihre politische Begabung nicht im Bildungsbereich vergeuden?
Die Kanzlerin hat mich damals gefragt, was ich gern machen würde, und ich wollte tatsächlich lieber Bundesinnenminister werden. Auf Landesebene hätte es vielleicht anders ausgesehen.

Die Mikrosteuerung der Schulen durch die Bürokratie der Aufsichtsbehörden muss aufhören.

Thomas de Maizière

Der ehemalige Berliner SPD-Bildungsstaatssekretär Mark Rackles hat einen Staatsvertrag für die Lehrkräfteversorgung gefordert. Gute Idee?
Ich finde die sehr interessant, aber man muss das ein bisschen größer denken. Warum? Wir haben bei den Kultusministern nur unverbindliche Beschlüsse, eine Art Gentleman-Agreement, informelle Vereinbarungen sind nicht verpflichtend. Eine Lösung wäre, die Entscheidungen, die die Kultusminister untereinander treffen, für alle verbindlich zu machen. Ein Instrument wäre dazu der Staatsvertrag, der ist ein Gesetz. Das Problem ist aber: Das dauert zwei bis drei Jahre. Daher ist es nur für wichtige Fragen brauchbar.

Fachkräftemangel: Es gibt nicht genug Lehrer.

© dpa/Sebastian Gollnow

Und für die anderen Fragen? Was wäre da zu tun?
Es wäre auch denkbar, –  da bräuchte man aber im Rahmen einer großen Staatsreform eine Grundgesetzänderung –, dass wir generell für Länderverabredungen unterhalb der Gesetzesebene ein neues Instrument schaffen, das für alle Bundesländer verbindlich ist. Das würde für die Innenminister ebenso gelten wie für die Landwirtschaftsminister, für die Umweltminister und für alle Bildungsminister. Ich meine länderübergreifende Verordnungen.

Aber was würde das für den Lehrermangel bringen?
Was den Lehrernachwuchs anbelangt, ist es wichtig, dass sich die Länder nicht gegenseitig die Lehrer abwerben. Zudem müssen sie sich auf verbindliche Kriterien einigen, welche Lehrer künftig in Schulen auch ohne klassische Lehrerausbildung arbeiten können.

Aber damit erreicht man noch nicht, dass die Länder mehr Lehrkräfte ausbilden. Genau dieses Problem will Mark Rackles mit dem Staatsvertrag lösen.
Die Frage ist, ob wir die Zeit dafür haben. Der Lehrkräftemangel ist eine der drängendsten Herausforderungen unseres Bildungssystems.

Von den jetzigen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten war keiner vorher für Bildung zuständig.

Thomas de Maizière

Nochmal zurück zum Ausgangspunkt, zu dem Brandbrief, der von 50 Akteuren unterschrieben wurde, darunter von den großen Bildungsstiftungen: Wie stellen Sie sicher, dass das nicht wieder ins Leere läuft?
Zum einen setze ich auf die öffentliche Begleitung. Ich habe nach den Bildungsgesprächen der letzten Wochen den Eindruck gewonnen, dass die Zeit der Vorwürfe jetzt vorbei ist und die Betroffenen nach vorn schauen und entschlossen die Agenda, die sie sich gesetzt haben, abarbeiten wollen. Sicherlich nicht so entschlossen, wie ich mir das wünsche, aber doch energischer als das in den vergangenen Jahren der Fall war.

Die Aufregung über die sinkenden Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern ist sehr groß. Ist diese Aufregung nicht übertrieben – weil die Flüchtlingskrisen und die Pandemie plausible Erklärungen für diese Entwicklung bieten?
Die Experten sagen, dass die Verschlechterung der Basiskompetenzen damit nicht hinlänglich erklärt werden kann. Wir haben bei den Schwachen und bei den Spitzenleistungen verloren und auch im internationalen Vergleich. Ich will nicht in Abrede stellen, dass die Arbeitsbedingungen besonders herausfordernd sind. Aber das darf keine Ausrede sein, die Dinge nicht besser zu machen.

Sie haben kürzlich empfohlen, dass sich die Bundesbildungsministerin mit den zwei Länderkoordinatoren und der Präsidentin der Kultusministerkonferenz ein Wochenende einschließt, um die Reform der KMK anzuschieben. Überschätzen Sie da nicht die Schlagkraft der Präsidentin, die zudem bald wieder wechselt?
Alle politische Erfahrung zeigt: Je größer ein Gremium ist, desto weniger sind Ergebnisse zu erwarten. Daher wäre es klug, dass sich die wichtigsten Akteure regelmäßig treffen, sie ein rotes Telefon haben, einen guten Draht zueinander entwickeln und informell miteinander sprechen. Was die KMK-Präsidentschaft angeht, gibt es Überlegungen, sie auf zwei oder drei Jahre zu verlängern. Das ist sicher diskussionswürdig. Es ist aber auch denkbar, dass man eine Art Direktorium mit den Koordinatoren der Ländergruppen und einem starken Präsidentenamt bildet. Das Präsidentenamt ist allerdings nicht viel wert ohne eine stärkere Verbindlichkeit der Beschlüsse.

Es ist aber schon deprimierend, dass wir nach jahrzehntelangen Diskussionen über fehlende Fortschritte bei der KMK noch immer über Strukturprobleme sprechen müssen.
Das mag sein, aber ich will die KMK dennoch ausdrücklich loben: Ich kenne keine andere Ministerkonferenz, die sich durch externe Beratung selbst auf den Prüfstand gestellt hat, so wie es die KMK gerade tut. Das verdient keine Kritik, sondern Anerkennung.

Sie haben gefordert, ein neues Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte einzuführen – mit festen Anwesenheitszeiten. Einige freie Schulen machen das schon so, aber generell gibt es dagegen starke Gegenwehr. Ist das Brett, das Sie da bohren, nicht ein bisschen zu dick?
So ist es vielleicht, aber man muss es dennoch versuchen. Gerade im Ausland hat man damit gute Erfahrungen gemacht. Das Problem ist die hinter den Bedenken stehende Denkweise: Ein Lehrer wird danach bezahlt, wie viele Stunden er vor der Klasse steht. Das ist komplett veraltet. Elterngespräche, digitalisierte Unterrichtsformen, die Einbeziehung von Sozialarbeitern im Unterricht – all das wird nicht abgebildet. Das muss aufgebrochen werden.

Wenn Sie Ihre beruflichen Weichen im Nachhinein neu stellen könnten, wäre dann nicht vielleicht doch der Bildungsbereich auf der Agenda?
Auf Landesebene wäre das vielleicht eine Perspektive gewesen. Aber dann müssten Schule und Hochschule in einem Ressort zusammengefasst werden. Leider ist das zurzeit nur in einem Bundesland der Fall: In Schleswig-Holstein kann man gerade bei Karin Prien sehen, was das für die Innovation in der Lehrerbildung bedeuten kann. Ein solches Schule-Hochschule-Ressort – das hätte mich gereizt.

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