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Der S-Bahnhof Hermannstrasse in Berlin Neukölln.

© imago/Olaf Selchow

S-Bahn in Berlin: Auf die Ohren

Von wegen, die Neue Musik ist tot. Am Berliner S-Bahnhof Hermannstraße soll atonale Musik zur Vertreibung von Junkies eingesetzt werden. Näher am alltäglichen Leben geht wohl kaum.

Schon seit Jahren gibt es immer wieder Versuche, klassische Musik zu ähnlichen Zwecken einzusetzen – etwa am Hamburger Hauptbahnhof oder im U-Bahnhof Adenauerplatz. Auch sei hier an den Einsatz von Heavy Metal bei Verhören und zur Zermürbung von Häftlingen in Guantanamo Bay erinnert.

Die Neue Musik, quasi zeitgenössische klassische Musik und die atonale Musik als eine Spielart, befindet sich in der Tat im Aus des gegenwärtigen Kulturbetriebs. Weshalb der Bruch mit Hörgewohnheiten traditionell auf weniger Gegenliebe beim Publikum trifft als der mit Lesegewohnheiten oder radikale Theaterentwicklungen, ist eine andere Debatte. Festzuhalten ist, dass Neue Musik ums Überleben kämpft. Das heißt in diesem Betrieb: um Hörer. Bemühungen, die Musik in den Alltag zu tragen, sind zahlreich.

Das aktuelle Qualitätsprogramm der S-Bahn erscheint da als Farce: Man will Reisenden, die nicht gerade einen Hörschutz mit sich führen, die Musik aufzwingen. Es geht laut Friedemann Keßler von der Bahn darum, den Bahnhof als Aufenthaltsort so unattraktiv wie möglich zu machen. Drogen konsumierende Dauerbesucher sollen damit vertrieben werden – aber keine Fahrgäste. Deshalb wolle man den Einsatz auf die Zugangsbereiche beschränken und behutsam steigern.

In Hamburg erklingt Mozart

Leidtragend ist dabei vor allem die Musik, die einmal mehr als eine Art Waffe eingesetzt wird. Die Botschaft, die diese Maßnahme Reisenden mitgibt, ist die, dass atonale Musik die Flucht nahelegt – statt die Auseinandersetzung mit eigenen Hörgewohnheiten, die seit mehr als 100 Jahren in diesem Feld Programm ist. Auch die elitaristische Suggestion, die Musik würde sozial Bessergestellte womöglich weniger belasten als Obdachlose und Drogenkonsumenten, lässt sich hier ohne Weiteres hineinlesen.

Zu wünschen bleibt der S-Bahn, dass die Wirklichkeit sie eines Besseren belehrt: Wie schon der Fall Mozart im Hamburger Hauptbahnhof, könnte sich auch die atonale Musik als angenehmer herausstellen als erhofft, und so manche Passanten zum Verweilen einladen.

Übrigens, hätte jemand etwas länger nachgedacht, wäre dieser Nachricht ein ordentlich vergüteter Kompositionsauftrag vorangegangen. Gesucht: Musik zum Davonlaufen. So würde nicht nur die Integrität der Musik gewahrt, sondern auch ein konstruktiver Beitrag dazu geleistet, die häufig in prekären Verhältnissen arbeitenden Musiker von Bahnhof, Straße und Drogen fernzuhalten.

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