zum Hauptinhalt

Die Station meines Lebens: Ohne den Hermannplatz wäre alles anders gekommen

Der U7-Bahnsteig, Mitte der 80er Jahre: Eine Zufallsbegegnung ändert das Leben unserer Autorin.

In der Kolumne "Die Station meines Lebens" schreiben Tagesspiegel-Autorinnen und Autoren über Berliner Haltestellen, die sie geprägt haben.

Ohne dich wäre alles anders gekommen. Mitte der Achtzigerjahre, U-Bahnhof Hermannplatz. Als es zum Germanistik-Seminar an die FU gehen soll, steht da ein schlaksiger Typ mit Wuschelkopf auf dem U7-Bahnsteig in Richtung Rathaus Spandau. Hier unten gleicht der von Alfred Grenander entworfene Kreuzungsbahnhof einer in Grau und Gelb gefliesten Kathedrale des Verkehrs.

Seit der Ankunft in Berlin vor wenigen Wochen wandern die Augen immer wieder staunend zu den Art-déco-Kapitellen der Säulen hoch. Und genau vor dem Übergang zur Konsumkathedrale Kaufhaus steht er. Kalle, der Ex von Dagmar. Was treibt denn der in Berlin? Wie sich nach kurzem Begrüßungsspektakel herausstellt, wohnt er für ein paar Monate hier. „Komm doch auf einen Kaffee mit in meine WG“, sagt Kalle. Niedersachsen in der Diaspora müssen zusammenhalten. Und in Seminaren mit 40 Leuten merkt der Prof doch gar nicht, ob einer weniger kommt. Moloch West-Berlin. Kaum hat man angefangen, halten die Zufallsbegegnungen schon den Studieneifer auf.

So sich das Landei die große Freiheit vorgestellt

Ein Stück die Hermannstraße rauf und zwei Hinterhöfe weiter geht es schließlich mit dem Lastenfahrstuhl hinauf in eine Fabriketage. Die Kunde von der coolen „Etage“ war schon in den heimischen Landkreis gedrungen. Betonfußboden, gekalkte Mauern, türenlose Zimmer und im Riesengemeinschaftsraum glänzt ein fettes Schlagzeug. So hat man sich als Landei die große Freiheit vorgestellt. Und dann lebt da auch noch so ein netter Engländer mit hinreißendem Akzent. Eine viel interessantere Bekanntschaft als Kalle.

Nur wenige Monate später steht der eigene Einzug in die Neuköllner Etage an. Es kommt, wie es kommen muss: Die Niedersächsin und der Engländer steigen auf ihren Wegen durch die große Stadt immer häufiger gemeinsam auf dem Hermannplatz um. Sie verlassen die jeder Zweierromanze abholde Wohngemeinschaft. Sie gründen ihre eigene WG. Sie ziehen in die Gegend nördlich des Hermannplatzes. Der Bahnhof bleibt ihr Dreh- und Angelpunkt.

Nun stünde nach alter Väter Sitte Heiraten an. Die binationale Hochzeit ist lange so unwahrscheinlich wie der Mauerfall. Er will, sie nicht. Doch Überzeugungen geht es wie Mauern, nur wenige überdauern die Ewigkeit.

Gut 25 Jahre ist die schicksalhafte Begegnung her, als an einem Vormittag der Zug Richtung Spandau am Hermannplatz einfährt. Er kommt aus Britz. Da residiert in der Blaschkoallee das stattliche Standesamt Neukölln. Trauzeugen, Braut und Bräutigam entsteigen frohgemut dem Waggon. Aber ja, Hermannplatz, ohne dich wäre alles ganz anders gekommen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false