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Hielt gern Vorträge über vorpommersche Schlösser und Backsteingotik: Karl-Hermann Zehm

© privat

Karl-Hermann Zehm (Geb. 1921): Nichts bleibt, wie es ist

Alles bleibt, wie es ist, denkt er. 1939 wird er eingezogen, kämpft, heiratet, hilft den Nazi-Irrsinn zu verwalten. Später baut er ein Haus nahe dem großem Wannsee und entdeckt seine große Leidenschaft.

Ein Haus. Es steht da, fest gemauert für die Ewigkeit, daran hat er keinen Zweifel, die Eltern haben in diesem hinterpommerschen Haus gewohnt, schon bevor er geboren wurde, er kennt jeden Winkel, vom Dachboden bis hinab in den Keller, das Zimmer, in dem er fiebernd während seiner Kinderkrankheiten lag, das besorgte Flüstern seiner Mutter im Nebenraum, die Spiele mit dem jüngeren Bruder im Garten, der Blick hoch in die Birke, in der sich geräuschvoll ein Eichelhäher niedergelassen hat, alles bleibt, wie es ist, denkt er verschwommen, das Haus und irgendwie auch das Leben.

Nichts bleibt, wie es ist. Es gibt deutliche Zeichen. Eines Morgens kommt der Lateinlehrer in die Klasse, am Arm eine Schülerin, Ottilie Ehrenfeld. „Ottilie“, sagt er und weint dabei, „wird heute das letzte Mal bei uns sein. Sie zieht mit ihren Eltern in die Niederlande.“ Aber auch die Niederlande werden bald zur Falle.

Dann: Karls Vater, Oberstudienrat, weigert sich, in die NSDAP einzutreten, er muss seinen Posten im Gymnasium aufgeben, sein Gehalt fehlt.

Dann: Karl wird 1939, sofort nach dem Abitur, eingezogen. Es geht Richtung Westen, nach Belgien und Frankreich, dann Richtung Osten. Vor Moskau kann er nicht mehr weiter. Später, sehr viel später, schreibt er die Ereignisse nieder: „Anfang Dezember 1941 fuhr sich die Panzer-Division 80 Kilometer vor Moskau bei einer Schneehöhe von einem halben Meter und 35 Grad Kälte endgültig fest, und ein allgemeiner Rückzugsbefehl erreichte uns. Da erhielt die mir anvertraute Gruppe die Weisung, einen vollkommen erschöpften Infanteriezug, der einen Waldrand zu sichern hatte, abzulösen. Doch fand ich den Waldrand leer vor, stattdessen die Kameraden in tiefem Erschöpfungsschlaf und halb erfroren in einer Bauernhütte. Schnellstens zogen wir in die verlassenen Stellungen ein. Zu meinem Schrecken bemerkte ich, dass ein Trupp von 20 Russen, ohne uns zu bemerken, auf die Hütte zuschlich. Kurz entschlossen gab ich den Befehl zum Eingreifen. Wir jagten sie in die Flucht. Nur ein Russe drehte sich noch einmal um und feuerte aus 20 Meter Entfernung seine Maschinenpistole auf mich ab. Ich bemerkte, dass mein linkes Handgelenk und mein rechter Arm durchschossen waren.“

Seine Frau weiß nicht, ob sie bald Witwe sein wird

Er kommt ins Lazarett. „Ein russischer, baumlanger Pfleger“ ist für ihn da. Nie wird Karl ein abfälliges Wort über die sowjetischen Soldaten verlieren. Kämpfen muss er nicht mehr. Seinen linken Arm wird er nie wieder richtig benutzen können.

Er heiratet, 1944, die Braut weiß nicht, ob sie bald Witwe sein wird. Er hat auf einem Badeanstaltssteg gesessen, während seines Genesungsurlaubes, und sich einen neuen Verband um den Arm gewickelt, und sie hat sich zu ihm gesetzt. Nach der Trauung muss er weiter, auf den Balkan, in Büros ausharren und helfen, den Nazi-Irrsinn zu verwalten.

Im Frühjahr 1945 die Befreiung. Das pommersche Haus steht nicht mehr, noch kurz bevor die Eltern geflohen sind, hat seine Mutter ein Federbett über den Konzertflügel gelegt, zum Schutz vor den Bomben.

Ingeborg ist keine Witwe, sie hat einen jungen Ehemann mit Erinnerungen, die mit heiteren Jugendtagen nicht das Geringste zu tun haben. Sie gehen nach Berlin, wo er Architektur an der TU studiert. Sie wohnen möbliert, sie bekommen einen Sohn und eine Tochter, Karl arbeitet bis zum 17. Juni 1953 in einem Architekturbüro in Ost-Berlin, kauft seinen Kindern von dem Ost-Gehalt Holzspielzeug und Fallada-Bücher, er streicht durch die Antiquariate am Savignyplatz, entdeckt ein Lateinlehrbuch, schlägt es auf und liest seinen eigenen Namen, den er damals, in seinem Elternhaus, auf die erste Seite geschrieben hatte. Er beginnt beim Sender Freies Berlin, auf dem Schild an seinem Büro steht „Bauleiter“, er ist für An- und Umbauten, für die Ausstattung der Studios zuständig.

Karl macht sich noch einmal auf den Weg

Und er baut ein eigenes Haus. Ein Doppelhaus, zusammen mit einem Freund, nahe dem Großen Wannsee. Das Haus sieht anders aus als das der Nachbarn. Die Ziegel sind Trümmersteine, die Wände weiß geschlemmt, an Sonnentagen darauf ein Spiel aus Licht und Schatten. „Die Kinder meiner Klasse“, sagt Karls Tochter, „haben in so hübsch verputzten Häusern gewohnt. Ich schämte mich ein wenig vor ihnen.“ Die 50er Jahre, die 60er, die Leute verputzten hübsch in jeder Hinsicht.

Und Karl macht sich noch einmal auf den Weg, zwei Monate mit seinem VW-Käfer, nach Thessaloniki und Athos und auch dorthin zurück, wo er mit schmerzendem Arm in einer Schreibstube zu sitzen hatte, auf den Balkan. An all diesen Orten studiert er die frühchristlich-byzantinische Kunst, über die er mit 50 seine Promotion schreibt.

Denn jetzt, mit 50, ist das Leben so, wie er es sich vage vorgestellt hatte, damals, im Garten seiner Kindheit. Es gibt Irritationen, doch bringt er alle Energie auf, Fremdes zu verstehen. Als seine Tochter ihr Romanistikstudium abbricht, gerät er außer sich, belässt es aber nicht dabei, sondern schreibt ihr einen fünfseitigen Brief. Er versucht zurechtzukommen nach Ingeborgs Tod, hält Vorträge über vorpommersche Schlösser und Backsteingotik. Er sieht junge Soldaten, in Afghanistan, in Syrien, und denkt, wie gut es ist, dass sie mit den Bildern in ihren Köpfen nicht allein gelassen werden. Die eigenen Bilder verfolgen ihn noch bis in seine letzten Tage, Stunden, im Bett, umgeben von seinen Kindern, bis er stirbt, in dem Haus, das er gebaut hat.

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