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Berlin: Nicholas Wickens (Geb. 1948)

Überall, wo er mal war, ist seine Heimat

Wie im Film rattert der Zug voran und lässt Trapani hinter sich. Nicholas sieht aus dem Fenster. Gelbbraun zieht Sizilien vorbei. Wie Marcello Mastroianni fühlt er sich. Der ist auch hier langgefahren, als Witwer Matteo in „Allen geht’s gut“.

Nicholas ist auf der Reise, sein Leben lang. Immer unterwegs. Immer auf der Suche nach sich selbst. Er hasst es, wenn Leute ihn fragen, wo kommst du her? Was für eine blöde Frage. Er weiß es doch selbst nicht.

Was Fremdsein heißt, erfährt er früh. Mit fünf Monaten wurde er adoptiert, von einem englisch-indischen Ehepaar. Im England der Fünfziger sagte man dazu noch Mischehe. Oder einfach: Hey, da kommen die Brownies!

Er selbst bezeichnet sich als Europäer. Überall, wo er mal war, ist seine Heimat. Und er ist viel herumgekommen. Darauf ist er stolz: Wer hat schon in so vielen Ländern wie ich gearbeitet? In Cambridge hat er Literatur und Englisch studiert, in Rom und Paris als Sprachlehrer gearbeitet und in Frankfurt für das Reiseunternehmen „MP Travel“.

Der Zug fährt nach Castelvetrano. Von dort geht es weiter, mit dem Bus, nach Selinunte. Da ist er noch nie gewesen. Nichts ist gebucht, nur das Ziel steht fest, so hat er es am liebsten. Nichts vorausplanen, einfach abwarten, wohin das Schicksal ihn verschlägt. Selinunte. Allein der Klang hat ihm schon gefallen, als Birgitta aus dem Reiseführer vorgelesen hat.

Der Ort, an dem er die längste Zeit seines Lebens verbracht hat, ist Berlin. 1993 kommt er dorthin. Zusammen mit Birgitta und großen Hoffnungen. Sie haben sich zwei Jahre zuvor in Frankfurt kennengelernt. Sie wird in Berlin als Grundschullehrerin arbeiten. Er kann ja überall arbeiten. Er spricht Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch fließend. Er hat sogar schon einen Job. Im Oktober soll er im Berliner Büro von „MP Travel“ anfangen.

Der erste Tag in der Berliner Wohnung empfängt ihn mit Sonnenschein. Mit federndem Gang läuft er die Treppen hinunter zum Kiosk. Dort wartet – nur die Realität, schwarz auf weiß. „MP Travel“ meldet Konkurs an. Er ist arbeitslos, mit 45. Was nun? Weiterziehen? Er bleibt. Es wird schon.

Es wird nicht mehr. Um die wenigen Angebote in Sprachschulen konkurriert er mit Studenten, die für wenig Geld oder sogar umsonst arbeiten. Er ist zu alt und zu teuer. 17 Jahre lang findet er keine Stelle. Geld bekommt er von seinem Adoptivvater.

Das nagt an seinem Selbstvertrauen. Immer wieder gibt es Phasen, in denen er nur noch frustriert ist, zermürbt von der Suche, von den Absagen. Wenn Freunde beim gemeinsamen Abendessen über belanglose Streitereien mit Chefs und Kollegen jammern, sagt er: „Eure Sorgen möchte ich haben.“

Halt bietet ihm Birgitta, deren Tagesablauf als Lehrerin auch ihm Struktur gibt. Und die Kultur, Aufführungen von George Tabori im Berliner Ensemble, Van-Gogh-Bilder in der Nationalgalerie! Höhepunkt des Jahres ist die Berlinale. Stundenlang steht er vor Kassen in der Schlange, unterhält sich mit den anderen Filmverrückten. In den zwei Februarwochen zählt es nicht, ob er arbeitet, sondern was er schon gesehen hat. Zwei Wochen ohne Alltag. Zwei Wochen wie Urlaub.

In Selinunte angekommen, beziehen sie eine kleine Herberge. „Sicilia – cuore mio“ heißt sie, „Sizilien – mein Herz“. Er nennt sie „kleines Paradies“. Alle Eindrücke saugt er auf. Der antike Sandstein flimmert in der Sonne. Das Meer rauscht. „Riechst du das? Ginster!“ Alle Last weicht der Euphorie. „Das ist der schönste Ort, an dem wir je waren.“

Am nächsten Morgen bleibt er im Bett liegen. Es brennt, mitten in der Brust. Als der Notarzt eintrifft, atmet er nicht mehr. Sizilien. Sein Herz. Es hat aufgehört zu schlagen.

Bei seiner Beerdigung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof spielen sie Bob Dylan. Das hat er sich mal so gewünscht. „Death is not the end“, der Tod ist nicht das Ende. Aber die Reise ist vorbei. Jan Mohnhaupt

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