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Bei einer Razzia gegen Clan-Kriminelle wird ein Mann abgeführt.

© dpa/Christophe Gateau

Neues Lagebild zur Clan-Kriminalität in Berlin: Innensenatorin fordert Beweislastumkehr wie in Italien – Faeser will Pläne prüfen

Unter 872 Straftaten wurden im „Lagebild Clan-Kriminalität 2022“ auch drei Tötungsdelikte registriert. Berlins Polizei soll enger mit Schwedens Ermittlern kooperieren.

| Update:

Die Berliner Polizei hat im vergangenen Jahr insgesamt 872 Straftaten von 303 der Clan-Kriminalität zugerechneten Verdächtigen registriert – ein leichter Anstieg zum Jahr 2021. Das ergibt das Lagebild „Clan-Kriminalität“, das Innensenatorin Iris Spranger (SPD) am Samstag veröffentlichte. Sie kündigte an, das Kriminalitätsphänomen, das sich „30 Jahre hinweg entfalten konnte“, konsequent zu bekämpfen.

Vergangenes Jahr zählten Beamte im Clan-Milieu unter anderem 125 Betrugstaten, 122 Verkehrs- und 120 Gewaltdelikte, 86 Verstöße gegen Drogen- und Arzneimittelgesetze, 65 Mal Diebstahl und Unterschlagung, 56 Fälle der Bedrohung mit Waffen, 43 Mal Raub, dazu 42 Verfahren wegen Geldwäsche, 37 wegen Beleidigung, 24 wegen Urkundenfälschung sowie sechs Sexualstraftaten und drei Tötungsdelikte.

Zu letzterem zählt die als Mord angeklagte Tat vom April 2022: In der Hasenheide wurde ein Mittzwanziger erstochen. Zwei Männer aus zwei Großfamilien stehen dafür vor Gericht. Das Opfer war ein Bruder des bekannten Intensivtäters Nidal R., der 2018 erschossen wurde.

Einschusslöcher im Fenster eines Lokals, das zum Abou-Chaker-Clan gehört.

© dpa/Julius-Christian Schreiner

Wesentlich in vielen Ermittlungen im Clan-Milieu waren 2022 auch die Daten sogenannter Krypto-Telefone. Auf diesen Telefonen verwendeten auch Clan-Größen die bis vor drei Jahren abhörsicheren SMS-Programme „Encrochat“ und „Sky ECC“. Gerade die aus Encrochat-Daten gewonnenen Hinweise führten in Berlin zu zahlreichen Verfahren, bei denen illegales Vermögen sichergestellt wurde.

Innensenatorin will Beweislastumkehr wie in Italien

Senatorin Spranger plädierte für eine volle Beweislastumkehr wie in Italien: „Mit ihr müsste zum Beispiel ein Tatverdächtiger, der über keine Einkünfte, keine bekannten Vermögenswerte verfügt, aber Immobilien in Millionenhöhe bar erworben hat, nachweisen, woher die hierfür genutzten Gelder stammen.“ Als Vorsitzende der Innenministerkonferenz wolle Spranger dies mit ihren Amtskollegen erörtern.

Wie Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos, für CDU) zuvor ankündigte, sollen auch Ordnungsämter – etwa aus nicht genehmigten Spielautomaten – Einnahmen einziehen können. Bislang verhängen die Bezirke meist nur Bußgelder.

Das Bundesinnenministerium verwies auf Tagesspiegel-Nachfrage auf seine „Strategie zur Bekämpfung der Schweren und Organisierten Kriminalität“ aus dem vergangenen Herbst. Diese enthalte mehrere Punkte, um Immobilienbesitz transparenter zu machen und illegal erworbene Vermögenswerte effektiver erkennen zu können: „Vor diesem Hintergrund ist auch der aktuelle Berliner Vorschlag näher zu prüfen und zu beraten.“

NRW begrüßt den Vorstoß

Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) reagierte positiv auf den Vorstoß aus Berlin. „Wir müssen an das große Geld herankommen und deshalb alle rechtlichen Möglichkeiten nutzen“, sagte er dem Tagesspiegel: „Ich schließe auch eine Beweislastumkehr nicht aus, wenn wir hier nicht weiterkommen.“ Dabei wären jedoch hohe juristische Hürden zu überwinden. „Ich halte eine Beweislastumkehr im Kampf gegen die Clan-Kriminalität nicht für völlig ausgeschlossen, jedoch für problematisch“, sagte der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans Hugo Klein: „Das wäre nur mit einem klaren Anfangsverdacht eine mögliche Vorgehensweise.“

Vergangenes Jahr gab es 160 allgemeine Kontrolleinsätze in 606 Objekten, die zur Clan-Kriminalität gerechnet wurden. Dabei wurden 36 Gewerberäume geschlossen, 34 Autos, 47 und 82 Spielautomaten beschlagnahmt. Dazu kommen zahlreiche Razzien in konkreten Einzelermittlungen.

Dem Bundeskriminalamt zufolge ist Clan-Kriminalität das Begehen von Straftaten durch Angehörige abgeschotteter Subkulturen gemeinsamer ethnischer Herkunft, in denen die Täter oft verwandt sind. Berlins Polizei betont ein „gemeinsames Abstammungsverständnis“, wobei die „eigenen Normen“ über die hiesige Rechtsordnung gestellt werden.

Clan quält Minderjährigen wegen seiner Freundin

Auch bei nichtigen Anlässen provozierten die Clans gewalttätige Eskalationen, heißt es im Lagebild, die patriarchalisch-hierarchischen Großfamilien zeichneten sich durch „mangelnde Integrationsbereitschaft“ aus.

Im Juni 2022 ging ein Minderjähriger zur Polizei. Er war im Vorjahr in Neukölln von fünf Männern entführt und in einem Keller in Friedrichshain nackt gequält, mit Waffen bedroht und gefilmt worden. Bis zu elf Personen waren beteiligt, darunter ein Elternteil der Freundin des Opfers.

Die Familie dieser Freundin lehnte die Beziehung ab, weshalb auch die Tochter mit dem Tode bedroht wurde. Nachdem der Jugendliche den Keller verlassen durfte, wurde er wiederholt angegriffen, traute sich erst Monate später zur Polizei. Bei den Verdächtigen fanden Beamte illegale Drogen, teuren Schmuck und eine gestohlene Violine im Wert von 275.000 Euro.

582
Personen zählt die Polizei zur Szene um die Clan-Kriminellen

Im Clan-Lagebild werden neben den 303 im Jahr 2022 auffälligen Verdächtigen weitere Männer (und wenige Frauen) dem Phänomen zugerechnet, zudem gibt es ein „Umfeld“ um die etablierten Täter: Insgesamt zählt die Polizei damit 582 Personen. Auch diese Zahl sei „nur der harte Kern der gesamten Szene“, sagte ein Kenner der Lage dem Tagesspiegel.

Unter diesen 582 Personen überwiegt die deutsche, gefolgt von offiziell „ungeklärter“, libanesischer und türkischer Staatsbürgerschaft. Zehn der registrierten Männer sind schwedische Staatsbürger.

Wie der Tagesspiegel berichtete, in Berlin sind drei Großfamilien aktiv, die auch im Clan-Milieu in Göteborg und Malmö bedeutend sind. Die Berliner Polizei verweist nicht nur auf den engen Austausch mit Ermittlern in ganz Deutschland, sondern auch auf internationale Kooperationen.

Gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt sei der Kontakt zur schwedischen Nationalpolizei intensiviert worden. Ermittler aus Schweden sollen in Berlin hospitieren, hiesige Polizisten ihre schwedischen Kollegen besuchen. Schweden gelte, heißt es im Lagebild, als Hotspot der Clankriminalität arabischstämmiger Täter in Europa.

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