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Victoria Anastasia Feuerstein

© privat

Nachruf auf Victoria Anastasia Feuerstein: „Was willst du mal werden?“ – „Berühmt!“

Ein großes Puzzle, dieses Leben, sie selbst, immer galt es etwas zusammenzufügen, was nicht zusammenzupassen schien. Warum nur war sie nicht dankbar für ihre Talente?

In den hellen Momenten war Vicky ein Star, immer schon. Ganz nach oben wollte sie, hoch war nie hoch genug. Auf dem Klettergerüst nicht und nicht auf ihrem Ninja-Baum, der Weide am Lietzensee, auf der sie herumturnte, dass alle den Atem anhielten. Ganz oben, auf den Bäumen und Dächern, da fühlte sie sich sicher. Unangreifbar.

„Was willst du mal werden?“, fragten die Erwachsenen besorgt. „Berühmt“, antwortete sie, da war sie kaum vier Jahre. Ein fröhliches, bildhübsches Kind, das alle glücklich machen wollte. Wenn sie eine Tüte Gummibärchen besaß, dann lud sie erst alle anderen ein, sich zu bedienen, bevor sie selbst hineingriff. Die Herzen flogen ihr zu, nur das des Vaters nicht. Mit fünf Jahren lernte sie ihn kennen, ihren Vater, und fortan durfte sie ihn in den Ferien besuchen, in der anderen Stadt. Mit einer kleinen Tasche kam sie zu ihm, mit drei Koffern Geschenken ging sie. Der Liebe ihrer Mutter war sie sich immer schon sicher gewesen, nun hatte sie auch die des Vaters gewonnen. Dachte sie.

Mit der Pubertät kamen die Selbstzweifel. Sie war so schön, aber ein kleiner Pickel konnte ihre Welt zum Einsturz bringen. Ein Casting in Babelsberg für eine Kinderrolle, nur einen Zweizeiler hätte sie auswendig lernen müssen. In der Nacht davor bekam sie hohes Fieber vor Aufregung. Beim Casting sollte sie ihren Namen nennen. „Wenn du das unbedingt willst, dann mach das doch selber“, sagte sie zum Regisseur. Sie wurde pampig, zu allen, vor allem zu ihrer Mutter, die Unmögliches von ihr zu verlangen schien. Glücklich sein, wie unendlich schwer ist das? Sie floh zu ihrem Vater, der hatte sie immer „Prinzessin“ genannt, aber nun im Alltag, in dessen Familie, da kam sie sich plötzlich vor wie Aschenputtel. Sie begann sich zu ritzen, mit 14, nicht nur einmal, viele Male, bis aufs Blut. Sie kam in die Notaufnahme der Kinderpsychiatrie.

In den dunklen Momenten war Vicky innerlich so zerrissen, dass sie spürte, niemals mehr wieder ganz zu werden. Es war ein großes Puzzle, das Leben, sie selbst, immer galt es etwas zusammenzufügen, was nicht zusammenzupassen schien. Alles war mit Anstrengung verbunden. Selbst die Dinge, die sie gern tat, fielen schwer. Sie bemalte liebevoll Masken, T-Shirts, viele Stunden wandte sie auf für staunenswert bunte Muster. Unglaublich für andere, die sich wunderten, warum sie nicht einfach dankbar sein wollte für ihre Talente.

Weg, weit weg!

Sie kam zurück nach Berlin, zur Mutter, wollte die Schule beenden und schmiss kurz vor dem Abi hin. Sie wollte einen Freund, der sie behütete, beschützte, auffing, und sie wütete, wenn keiner ihren Erwartungen entsprach. Sie war nie lang allein, aber die Liebe hat nicht funktioniert, nicht so, wie sie es sich vorstellte. Sie wollte weg, weit weg, fuhr als Austauschschülerin nach Amerika und kehrte nach einem halben Jahr zurück. Enttäuscht von den Menschen dort, enttäuscht von sich selbst.

Nur in der Musik, da war sie selig. Wo sie auch ging und stand, erklang aus ihrem kleinen Lautsprecher Musik, Techno, Rap, sie kannte einen der berühmten Rapper persönlich, nannte ihn ihren Freund.

„Träum ja nur“, in dem Video von Silbermond tanzt sie mit, sorgenfrei, weil sie im Tanz den Boden unter den Füßen verlor und endlich schweben konnte. Sie schrieb sich am Europäischen Theaterinstitut ein, und auch wenn ihre Schüchternheit anfangs jede Sprech- und Gesangsprobe zur Qual werden ließ, spürte doch jeder, dass sie eine wirkliche Chance hatte, berühmt zu werden. Als Schauspielerin. Als Musical-Star. Aber die himmelhohen Erwartungen an sich selbst zogen sie nur noch tiefer hinunter.

Sie nahm Medikamente gegen ihre Selbstzweifel, wahllos, unterstellte jedem, viel zu viel von ihr zu wollen und viel zu wenig zu geben. Entzog sich ihrer Mutter, der sie an allem die Schuld gab. Schickte ihr ein Musikvideo, mit dem sie um Entschuldigung bat: „Mama, ich weiß, dass du wegen mir oft weinst“, singt die Sängerin Ness in ihrem Song „Schuhe“, eine Liebeserklärung auf Umwegen. „Doch ich hab die schönsten Paar Schuhe…“, weil Schuhe wichtig sind, die Füße tragen dich das ganze Leben. Vicky liebte ihre Mutter über alles, aber sie wollte ihre besorgten Fragen nicht zulassen, da machte sie ganz schnell dicht. „Merkst du das, wenn dieses Gefühl von Hilflosigkeit in dir hochkommt, und weißt du, was dir da helfen könnte?“, fragte die Mutter, und Vicky antwortete: „Einfach so in den Arm nehmen.“ Aber sie ließ sich nicht immer einfach so in den Arm nehmen. Weil sie wütend war. Wütend auf Menschen, die nicht vegan lebten. Wütend auf Menschen, die Kriege führten, sich an anderen bereicherten. Wütend auf Gott und die Welt.

Anderen gegenüber behauptete sie, sie sei obdachlos. Weil da jeder Schutz fehlte, den sie sich von den Ärzten und Psychologen erhoffte. Ärzte halfen nicht. Ärzte beruhigten, winkten ab, hatten nie Zeit. Sie sei stabil, da sei nichts zu befürchten, behauptete der eine. Der andere etikettierte: Borderlinerin, manisch-depressiv, bipolare Störung. Seit zwei Jahren suchte sie einen Therapieplatz. Sie wusste, sie war krank, schon von Kindesbeinen an. Sie hatte es immer gefühlt. Die erste Therapeutin wiegelte ab seinerzeit, beruhigte die Mutter.

Ein Dutzend Suizidversuche in neun Jahren. Corona ließ die Wartelisten bei den Ärzten immer länger werden. Keine Konzerte, keine Partys, keine Treffen mehr mit Freunden. Die Einsamkeit war wie ein Sterben auf Raten. An ihrem letzten Geburtstag lief nichts nach Wunsch. Aus Enttäuschung schnitt sie sich die Pulsadern auf. Wurde rechtzeitig von einer Freundin gefunden. Der Vater verbot ihren Halbgeschwistern den Umgang mit ihr. Ihr Schwarm, der berühmte Rapper, hatte Geburtstag. Sie gratulierte ihm kurz nach Mitternacht. Acht Wochen zu früh. Die sich steigernde Qual der Selbstvorwürfe: Ich kann gar nichts. Ich mach alles verkehrt.

Im Meer ist sie bestattet worden. Hinein in die Wellen wie in ihrem letzten Videopost, einen Tag, bevor sie sprang, war sie da zu sehen, wie sie sich immer wieder in die Brandung stürzte: „Lass mich frei!“

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