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Matthias Traber

© Detlev Schilke

Nachruf auf Matthias Traber: Kein Netz, keine Rettungsleine

Mit zehn kommt er ins Kinderheim, mit 14 ist er ein kleiner König. Seinen Abschied erklärt er nicht, das Ende ist bitter.

Einmal noch ist Matthias der Star, der Todesmutige, der Verrückte. Hier in Bautzen, bei der Eröffnung des Wasserkunstfestes, zur „spektakulärsten Aktion, die die Stadt seit Langem gesehen hat“, wie er der Lokalpresse zuvor versprochen hat. Die Scheinwerfer strahlen ihn an, 40.000 Menschen schauen zu ihm hinauf, 4,8 Millionen Zuschauer sind an diesem 23. August 2002 vor dem Fernseher dabei. Wird Matthias es schaffen? Oder wird er vom Seil stürzen, sich verletzen, vielleicht sogar sterben?

Das ist der Kitzel. Darum geht es. Seit 20 Jahren schon. Wieder und wieder wagt sich Matthias in die Höhe. Mit immer verrückteren Aktionen. Mit dem Motorrad die „siebenfache Todesschraube“. Mit dem Auto übers Drahtseil und drunter hängt jemand im Trapez. Auf Stelzen. Hauptsache, das Publikum hält den Atem an und bangt um das Leben des Artisten. Denn da ist kein Netz und keine Rettungsleine.

Jetzt also nimmt Matthias Traber die Stange in die Hand, acht Meter lang, 30 Kilo schwer. Er setzt seinen Fuß auf das Drahtseil, 22 Millimeter stark und so fest gespannt wie nur irgend möglich. 150 Meter hat er vor sich. Start ist die Friedensbrücke in 25 Meter Höhe, Ziel ist der Turm „Alte Wasserkunst“, 50 Meter hoch. Geschätzte Laufzeit: 45 Minuten.

Matthias schiebt seinen Fuß vor. Dabei umgreift er das Stahlseil mit dem großen Zeh und dem Zeh daneben. Schiebt sich langsam vorwärts, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt. Plötzlich, drei Meter hat er zurückgelegt, rutscht das Seil ein Stück nach unten, ein paar Zentimeter nur. Ein Stein an der Brücke hatte dem Druck nicht standgehalten. Matthias schwankt, tariert aus, macht weiter. Meter für Meter. Wer auf der großen Bühne steht, der gibt nicht auf. So hatte Mathias es gelernt.

Geld aus dem Westen

Kleinmachnow liegt gleich unter Zehlendorf, gehört aber schon zu Brandenburg. Als die Mauer gebaut wird, ist die Ortschaft plötzlich von der Stadt abgeschnitten. Wer nun nach Ost-Berlin will, muss einen weiten Umweg fahren. Hier, direkt an der Grenze, wächst Matthias auf. Da ist seine Mutter, Petra, die gerne Synchronsprecherin bei der DEFA werden möchte. Da ist die Großmutter, eine Schauspielerin aus einer Dynastie von Schauspielern mit adeligem Einschlag. Die Uroma schickt regelmäßig Geld aus dem Westen.

Das Grundstück ist groß, das Haus mit Dresdener-Barock-Möbeln eingerichtet, in der Ecke steht ein Spinnrad aus dem 16. Jahrhundert und auf dem Dachboden hängen, sitzen und liegen 400 Showmarionetten inklusive Requisiten und Lichtanlage. Als die Mutter der Großmutter ihre Schwangerschaft beichtet, nimmt die ihren Pumps und schlägt ihr auf den Kopf. Die Karriere kann die Mutter ja nun vergessen.

Matthias und seine Zwillingsschwester Eva kommen auf die Welt. Der Vater richtet sich mit Alkohol zugrunde. Als Matthias vier ist, ist seine Schwester plötzlich weg. Die Mutter hat sie zur Adoption freigegeben. Warum nur? Darauf gibt es keine Antwort. Zu ihm, Matthias, ist seine Mutter weich und lieb. Sie verwöhnt ihn ausgiebig und verbietet ihm wenig. Seine Oma vermittelt ihm die korrekte Aussprache, besteht auf einer gewählten Artikulation.

Im Erziehungsheim

Matthias ist zehn, als die Jugendhilfe ihn in das Erziehungsheim in Kampehl steckt. Er ist nicht zur Schule gegangen. Seine Wut kann grenzenlos sein. Wenn ihm andere Jungs frech kommen, boxt er ihnen auf den Kehlkopf. Da liegen sie dann am Boden, auch wenn sie größer und stärker sind. Matthias kennt keine Angst, ist nicht zu bändigen. Mit dem legt sich keiner an.

Das Kinderheim ist schlimm. Stundenlang nackt im Regen stehen. Mit dem Wasserschlauch abgespritzt werden. Macht einer einen Fehler, werden alle bestraft. Zwei Jahre ist Matthias dort. Danach verliert er kaum ein Wort darüber, tut so, als ob ihm das alles nichts ausgemacht hätte.

Seine Mutter lernt Alfred kennen, einen Artisten aus der Familie Traber, einer Dynastie von Hochseiltänzern. Für Petra verlässt er die Truppe. Ein richtiger Vater für Matthias wird er aber nie, ein Trainer schon. Artist soll der Junge werden, mit Disziplin und Härte wird es schon klappen. Zwei Jahre geht Matthias auf die Artistenschule in Weißensee. Dann übernimmt Alfred. Er spannt im Garten ein Seil. Immer wieder muss Matthias da rauf, immer wieder fällt er runter, so lange, bis die Hände bluten. Lernen, sich abzufangen, ist das Allerwichtigste, denn ein Netz gibt es nicht. Matthias fällt und fällt, bis er es drauf hat, sich im allerletzten Moment noch mit dem kleinsten Finger oder den Zehen am Seil festzuhalten. Spurt Matthias nicht, setzt es was.

Feste Gage, Auftritte im ganzen Land

Alfred und Matthias geben ihre ersten Shows, und plötzlich ist Matthias ein kleiner König. Gerade 14 Jahre ist er alt. Der Jubel der Menschen, das viele Geld, das sie auf einmal verdienen. Sie sind jetzt offizielle Künstler der DDR, mit fester Gage, mit Auftritten im ganzen Land. In Kleinmachnow lädt Matthias die ganze Klasse zum Softeis ein oder haut auf dem Jahrmarkt 500 Mark auf den Kopf, alle sind natürlich eingeladen.

Zwei Freunde hat er. Der eine heißt Ralf, mit ihm zieht er durch die Discos, geht ins Restaurant Jade im Palasthotel, das teuerste in Ost-Berlin. Der andere Freund heißt Alex, der hat sein Jugendzimmer im ehemaligen Kohlenkeller mit eigenem Eingang. Abends klopft Matthias, Alex setzt einen Tee auf und sie diskutieren über Politik, die Welt, den Westen und die Gefahren eines Atomkriegs. Hier, bei Alex auf der Couch, ist Matthias feinfühlig, klug, witzig, empfindsam. Eigentlich, da sind sich alle einig, ist Matthias ein Lieber. Wenn er nicht gerade wütend ist.

Zweimal ist er sitzen geblieben, sein Achte-Klasse-Zeugnis holt er gar nicht erst ab. Braucht er auch nicht, er ist berühmt. Sein Gesicht drucken sie auf Plakate, zeigen es im Fernsehen und in der Zeitung. Show in Moskau, in Warschau, bei der 750-Jahr-Feier von Berlin. Es geht rasant bergauf. Freunde und Frauen stehen Schlange, das Geld fließt, der Champagner auch. Matthias kauft sich Uhren, Autos, Anzüge, Fernseher, Möbel. Verschenkt und verteilt und verliert alles wieder. Egal, kauft er sich das Zeug eben noch einmal.

1988, Matthias ist tanzen im „Friedrichshof“ in Friedrichshagen, da entdeckt er Brigitte. Mit ihr ist es anders als mit den Frauen davor. Die will er wirklich. 1989 kommt ihr Sohn auf die Welt. Die Mauer fällt. Und auch sonst ändert sich jetzt alles. Ab sofort regiert der Markt, jetzt gibt es Konkurrenz, Matthias ist nun einer unter vielen. Doch aufgeben kommt nicht infrage, sein Stiefvater, seine Mutter, seine Freunde, alle zählen auf ihn und auf das Geld, das er verdient. Matthias zählt auf die Anerkennung, den Applaus. „Wie habe ich gewirkt?“, fragt er als Erstes, wenn er vom Seil runterkommt.

Dann passiert es, 1992, bei einer Show in Gera, bei der sie ihre Autonummer aufführen. Ein Dachträger löst sich. Kathrin, eine Artistin, die für Matthias arbeitet, stürzt ab und kommt ums Leben. Sie hinterlässt drei Kinder. Doch die Show muss weitergehen. Matthias plant die Musik, das Licht, die Kostüme; seine Frau und seinen Sohn vergisst er fast, so konzentriert ist er. 1995, Klimakonferenz in Berlin, eine wahnwitzige Aktion soll die Gefahr des Klimawandels verdeutlichen, so die Idee des Senats. Vom Fernsehturm über den Neptunbrunnen bis hinter den Dom, so weit spannen sie das Seil. Das Wetter ist eine Katastrophe, es ist der 26. März. Matthias tritt trotzdem an. Natürlich. Die Show ist das Wichtigste, auch wenn es saukalt ist. Zu kalt. Seine Hände können die Stange nicht mehr halten, sie stürzt hinab und er fast hinterher. Matthias muss abbrechen. Und macht danach trotzdem weiter. Brigitte allerdings verlässt ihn.

Schließlich der Auftritt in Bautzen. Statt den geplanten 45 Minuten braucht Matthias 120. Danach betritt er nie wieder ein Seil. Es gibt eigentlich keinen Grund, er erklärt nichts. Er wendet sich nicht an die Öffentlichkeit, um charmant und wortgewandt seinen Abschied zu moderieren. Es scheint, als ob jede Lust, jede Motivation aus ihm herausgeflossen ist. Alles ist egal. Er verliert seine Freunde, die Wohnung, das Geld, die Zähne. Er nimmt alle Drogen, die er in die Finger kriegen kann. Am Ende lebt er in einem Wohnwagen in Kleinmachnow, den Ralf ihm verschafft. Geflucht und geschimpft hat Ralf. Doch nichts zu machen. Matthias richtet sich zugrunde. Zurück bleibt ein Sohn, der seinen Vater nicht versteht.

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