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Nachruf auf Lars Burger: Die Kunst des Aufschiebens

Bei Chopin-Balladen flogen ihm die Herzen zu, und er sammelte sie emsig ein. Doch Autorität war bei ihm immer Verhandlungssache

Der Vater war viel auf Reisen, Mathematiker und Geologe in Person, Dozent auch daheim, „aber das Interessante ist ja eigentlich …“, so begann er gern seine Vorträge. Lars hatte eine Weltkarte, da pinnte er die Stecknadel immer dort hinein, wo Papa gerade forschend unterwegs war.

Die Mutter war Lehrerin, streitbar, sehr scharfzüngig, und stets gewillt die Diskussion auf den Punkt zu bringen, der ihrem eigenen Standpunkt am nächsten war. Sie hatte wenig Zeit für Lars, und so war Oma Erni lange Zeit die allerwichtigste Frau in seinem Leben. Sie brachte ihm Manieren bei und gab ihm so viel Liebe mit auf den Weg, dass er, der eigentlich Schüchterne, nie in Verlegenheit geriet, sich einsam zu fühlen. Auch nicht als die Eltern sich trennten, und die Mutter eine Lebensgefährtin fand, denn die Familie als Ganzes hielt zusammen. Sonntags, am Frühstückstisch, feierten sie Woche für Woche das große Wir-können-über-alles-reden-Symposium. Da wurde lautstark gestritten, je heftiger, desto munterer, denn keiner schmollte, nur weil der andere anderer Meinung war.

Lars fing an, Klavier zu spielen, brachte sich das Saxophonspiel bei, weil er unbedingt im Schulorchester mitwirken wollte. „Man müsste Klavier spielen können“, sang Johannes Heesters, „wer Klavier spielt, hat Glück bei den Frau’n, weil die Herr’n, die Musik machen können, schnell erobern der Damen Vertrau’n.“ Das Lied sang Lars in späteren Jahren gern auf Partys, denn er fand sehr viele Vertraute, nachdem er die Pubertät überwunden hatte und mehr Gefühle für Mädchen entwickelte, als er es sich selbst je zugetraut hätte. Bevorzugt bei Chopin-Balladen flogen ihm die Herzen nur so zu, und er sammelte sie emsig ein.

Über den Kopf ins Herz, Fleiß schlägt Talent

In der Liebe hatte er es leicht, in der Musik hingegen erarbeitete er sich alles. Über den Kopf ins Herz, Fleiß schlägt Talent. Er las viel. Er dachte nach über das, was er tat, und fand übers Denken zu seinem neuen Instrument: Kontrabass. Ein pragmatischer Entschluss, denn der Kontrabass wird in jedem Orchester gebraucht, und er brauchte ein Orchester, zumindest ein Ensemble. Lars war ein großartiger Musiker, aber kein Solist, er kannte seine Grenzen. Virtuos war er vor allem darin, dem Dirigenten zu sagen, wo es langgeht. Was nicht jeden Dirigenten glücklich stimmte, dass da ein Orchestermitglied, bevorzugt bei der Probe vor allen anderen seine Autorität in Zweifel zog. Aber Autorität war für Lars immer Verhandlungssache, das bessere Argument zählt, nicht Amt oder Würden. Da war er sich mit seiner Mutter einig, dass der eigene Standpunkt doch meist der vernünftigere ist.[DE1] 

Lars spielte in vielen Orchestern und machte stets eine gute Figur. Lars und sein Bass, das passte einfach, von der Größe her, wie vom Temperament. Sich nie in den Vordergrund drängen, sondern stetig und zuverlässig den Grund legen, der die anderen beim Musizieren trägt. Er unterrichtete, er begleitete bekannte Solisten, organisierte Events[DE2] , gab immer alles, scheinbar mühelos. Aber wie die anderen ihn sahen, und wie er selbst sich fühlte, das war zweierlei. Da war ein stilles Verlangen nach bleibender Harmonie. Und so fand sich der Kontrabassist eines Tages in Liebe mit einer Oboistin. Lars gab stets zu Protokoll, von Anfang an verliebt gewesen zu sein, Nicola hingegen, so ihr spätes Geständnis, fand ihn anfangs zu vehement, in seiner Klugheit zu ausgreifend und bestimmend. Zudem war er ein bekennender Nichttänzer. „Mit ihm würde ich unentwegt französische Problemfilme ansehen müssen“ – eine unbegründete Furcht, denn es war ein Blockbuster, zu dem er sie beim ersten Mal einlud.

So kamen sie zusammen, was sein Leben sehr viel reicher machte, und ihres auch, denn die beiden waren sich rasch einig, das Duett zum kleinen Ensemble zu erweitern. Mit seinen beiden Söhnen tat Lars fortan das, was schon sein Vater mit ihm getan hatte, er redete mit ihnen über Gott und die Welt. Aber er war auch kuschlig, nahbar, und streng nur auf eine Weise, die beide als liebevolle Aufforderung zum Selbständigwerden begriffen.

So kam sein Entschluss, als Gymnasiallehrer zu arbeiten, gar nicht so überraschend. Er war inzwischen alt genug, um sich von den Schülern nicht mehr auf der Nase herumtanzen zu lassen. Aber er war so jung, und in vielem so kindlich geblieben, dass er keine Mühe hatte, sich in die Hoffnungen und Sorgen von Heranwachsenden zu versetzen. Denn die Welt stellt sich doch sehr schwierig dar in den letzten Jahren, und da war es gut, mit Lars jemanden zu haben, der nicht gleich auf alles eine Antwort wusste, aber doch für jede Frage Zeit hatte.

Bei seinen Freunden hingegen blieb er ganz der Alte. Da posierte er immer noch gern als Besserwisser. Und was er nicht wusste, ließ er nicht erkennen. Aber mit seinen Schülern war er auf Augenhöhe, ohne sich anzubiedern. Und so bekam er immer nur Bestnoten für sein Betragen. Erstaunlicherweise auch von der Schwiegermutter. Dank seiner Frohnatur war er ihr Liebling, und da er anpacken konnte, lobte ihn selbst der Schwiegervater. Was zuweilen auf die Nerven fiel: seine Kunst des Aufschiebens, die letzte Leerung des Briefkastens war immer noch früh genug. Und wegwerfen konnte er nichts. Die alte Kommode ist doch noch gut genug, da passt viel rein, nur rein damit ins Haus, bis irgendwann alles zugestellt war. Er hätte entrümpelt, irgendwann, ganz sicher, wenn ihm nicht die Krankheit eine Grenze gesetzt hätte, die er nicht verschieben konnte.

Die Diagnose war ein Urteil: Krebs. Er machte sich Hoffnung. Er wollte das Gute daran sehen: Endlich Zeit für die Hochzeit, lange geplant, immer wieder hinausgeschoben, denn das eigentliche Ja zueinander waren die Kinder. Am Rande der Welt, jenseits von Spandau, in dem Haus, das seine Großeltern in die Weiden, Felder und Pferdekoppeln hineingebaut hatten, da wo er geboren worden war, da starb er. Beerdigt ist er bei Oma Erni, zu der er immer ging, wenn ihm traurig ums Herz war.

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