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Jörn Jensen

© privat

Nachruf auf Jörn Jensen: War das nicht bourgeois?

Alles geriet in den Verdacht des Bürgerlichen. Aber rundherum ablehnen konnte er es auch wieder nicht

Das Baby ist vor wenigen Stunden auf die Welt gekommen. Es liegt in seinem Krankenhausbett und ballt die Fäuste, es scheint, als rebelliere es schon jetzt gegen die Welt. Da schiebt sich ein Kopf, groß und mit wildem, grauem Haar ins Bild, direkt an das winzige Ohr des Babys und flüstert: „Bleib renitent.“

Der Kopf gehört Jörn Jensen, das Baby ist der Sohn seiner Patentochter. Jörn mag Kinder, er mochte sie immer, einerseits. Andererseits lehnte er es kategorisch ab, selbst Vater zu werden. Er fand, man dürfe keine weiteren in eine von Atomkraft, Umweltkatastrophen und Kriegen zerrissene Welt hineinsetzen. Alles andere sei „bourgeois“.

Das Wort mäanderte Jahre durch Jörns Sätze. Alles geriet in den Verdacht des Bürgerlichen. Sogar Möhren sollten schmutzig und nicht mehr wie bei Mutti, geputzt und geschält, in den Suppentopf. Dabei war er dem bürgerlichen Leben eine geraume Zeit gar nicht so abgeneigt gewesen. Er hatte ein altsprachliches Gymnasium besucht, Kunstturnen auf höchstem Niveau betrieben, Sport und Germanistik auf Lehramt studiert. Ganz wie sein Vater, auch Leistungssportler und Sportlehrer, wie seine Mutter, die ebenso ein Sportstudium absolviert hatte. Doch bei einer Übung fiel er vom Reck und zog sich einen komplizierten Bruch am Knöchel zu. Vorbei war es mit der Turnerei. Vorbei war es bald auch mit seinen Eltern.

Problematisch war es zuhause schon immer, der Vater schlug schon mal zu, die Mutter stand tatenlos daneben und war ihrerseits eine ziemlich fordernde Person. Jörn hatte um das Ansehen seiner Eltern gekämpft, nie war irgendetwas genug. Dazu sein Umzug nach Berlin, um der Bundeswehr zu entkommen. Und dann noch Dorothea, die er in Berlin kennen gelernt hatte, und deren Eltern der FKK-Bewegung angehörten und eine schwierige Ehe führten. In Husum, bei seinen Eltern, war sie unerwünscht. Sie schleppten andere Frauen an: Wären die nicht besser? Sie hörten von Studenten in Berlin, die nicht mehr brav in ihren Vorlesungen saßen, sondern rebellierten, Fragen an die Alten stellten: Was habt ihr damals gemacht? Fragen, die auch Jörns Eltern in Verlegenheit brachten.

Im Auto nachts im Grunewald?

Die Muffigkeit im Land stieß Jörn mehr und mehr ab. Frau Rusche etwa, die Wirtin seines Zimmers, schrieb einen Brief an seine Eltern, ihr Sohn komme oft spät nach Hause, trage das Hemd offen und die Krawatte unordentlich. Dann die Schwierigkeit, einen Ort für die Liebe zu finden. Im Auto nachts im Grunewald? Da leuchteten Spanner in die Fahrzeuge. Wenn er mal mit Dorothea in Husum war, schliefen sie oben, auf dem Dachboden, die Betten in verschiedenen Ecken. Jörn schlich dann zu ihr und blieb bei jeder knarrenden Diele erstarrt stehen.

Die Hochzeit empfand er als letztes Zugeständnis an die bürgerlichen Regeln, ans „Bourgeoise“. Bei Dorothea war es etwas anders. Für sie stand das Politische nicht über allem, als es immer weiter ins Private hineinwirkte, ging ihr das zu weit. Sie tat auch nicht, was ein linker Student zu tun hatte. Sah sich lieber einen amüsanten Beatles-Film an als den letzten von Godard, las auch mal einen Krimi und nicht nur Marx.

1973 ließen sich die beiden scheiden. Ihr Verhältnis aber blieb gut. Dorothea heiratete wieder, bekam zwei Töchter. Ihre jetzigen Schwiegereltern waren allerdings noch schlimmer als die einstigen. Zwar mochten sie die neue Frau an der Seite des Sohnes, ihre stramme Nazihaltung aber hatten sie nie aufgegeben. Eines Nachts lag Dorothea wach, die Gedanken begannen zu kreisen, zu wirbeln, albtraumhafte Formen anzunehmen. „Was geschieht mit unseren Kindern, wenn uns etwas zustößt?“ Zu diesen Schwiegereltern sollten sie auf keinen Fall, ausgeschlossen. Wer aber käme sonst in Frage? Sie ging alle möglichen Leute durch, und landete schließlich bei Jörn. Natürlich, das war der Richtige! Auf Jörn konnte man sich vollkommen verlassen.

So wurde Jörn eine Art Patenonkel ihrer Töchter. Er legte ein Sparkonto für sie an. Er beschenkte sie reich. Er hörte sich ihren Kummer an. Er genoss es, Sachen in Boutiquen mit ihnen auszusuchen, „Fetzchen“, wie er sie nannte. War das nicht bourgeois? Papperlapapp, es war die reinste Freude.

Und es gab auch nicht die geringsten Spannungen mit Christine, seiner zweiten Frau. Sie lebten zusammen mit Freunden in einem Haus in Lichterfelde. Das Konzept der bürgerlichen Kleinfamilie lehnten sie selbstverständlich ab. Jörn unterrichtete an der Freien Universität und an einer Gesamtschule. Von 1983 bis 1986 arbeitete er an der Uni in Wuhan. Bevor er zum ersten Mal den Seminarraum betrat, tuschelten die chinesischen Studenten ängstlich: Gleich kommt er, der strenge deutsche Professor. So stellten sie sich ihn vor, so erzählten sie es ihm später. Dann flog die Tür auf, Jörn stürmte hinein, ein Mann mit buntem Pullover und langen, wilden Haaren rief fröhlich „Hallo!“

Zurück in Berlin, trat er der Alternativen Liste bei, wurde Bezirksverordneter, Bezirksstadtrat und dann, in Tiergarten, Berlins erster grüner Bezirksbürgermeister. Er hörte nie, auch nicht nach seiner Pensionierung, auf, die Politik über alles zu stellen. Zu seinem 68. Geburtstag bauten ihm Christines Söhne ein riesiges Atomkraftwerk aus Pappe. Sie überreichten es ihm mit den Worten: „Jetzt hast du einmal in deinem Leben die Möglichkeit, ein AKW abzuschalten.“

„Bleib renitent“, hatte er dem Neugeborenen ins Ohr geflüstert. Im Grunde hatte er es auch zu sich selbst gesagt.

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