zum Hauptinhalt
Jean Senghor

© privat

Nachruf auf Jean Senghor: Kratzspuren im Pass

Er gab sich als ein anderer aus. Wer er wirklich war, wusste er wohl selbst immer weniger. Er fand sein Ende auf der Treppe des Französischen Doms

Die Nachricht des Pfarrers ist für sie ein Schock. Dass der Obdachlose, der auf einer Seitentreppe des Französischen Dom lebte, gestorben sei. Und er Jean Senghor heiße. Sie liest den Namen mehrmals, kann es nicht fassen. All die Jahre lang hat sie ihren ehemaligen Schüler nicht erkannt.

Nicht einmal an diesem einen Tag, als sie wieder ihr Ehrenamt im Hugenottenmuseum ausübte. Als sie das Fenster zur Seitentreppe öffnete, einen Schatten erschrocken zusammenzucken sah. Blauer, dezenter Pullover, gutaussehendes Profil. Sie schloss das Fenster schnell wieder, wollte nicht weiter stören. Wer das war, den sie gestört hatte, erkannte sie nicht.

Ob es ein Zufall war, dass er ausgerechnet bei der Französischen Gemeinde Schutz suchte, fragen sie sich nun. Wobei, „suchen“ – er schirmte sich ab, buchstäblich, mit mehreren Regenschirmen gegen die Außenwelt. Geld, Essen, Zuspruch, nichts akzeptierte er. Nur von einer Frau aus der Gemeinde, gebürtig in Kamerun, nahm er einmal Geld an. Jean, sagte sie, komm mal mit, wir feiern jetzt Gottesdienst. Aber das ging ihm zu weit, das wollte er nicht. Er schickte die Gemeindemitglieder weg, die ihm eine Tasse Kaffee brachten. Brüllte den Pfarrer an, der ihn grüßte. Gestenreich, unverständlich, er wirkte bedrohlich. Irgendwann mieden sie ihn. Mancher jubelte ihm heimlich noch Schrippen unter.

Dann, ein ganzes Wochenende lang, bemerkte niemand seinen Tod. Er lag halt da, hinter seinem Schirm aus Schirmen.

Die Lehrerin sah, dass er älter sein musste

Nach Berlin kam er Jahre zuvor mit dem Plan für ein neues Leben. Ein November vor ungefähr 25 Jahren muss es gewesen sein, erzählt sie, damals Lehrerin am Französischen Gymnasium, als die Direktorin zu ihr kam. Es gebe einen neuen Schüler, ob sie ihn in ihre Klasse aufnehmen könne?

Er gab sich aus als 18, wollte sein Abitur machen. Die Lehrerin sah, dass er älter sein musste. Sie sah es später auch an Kratzspuren in seinem Pass. Doch sie stellte ihm keine Fragen. Auch nicht über seinen Nachnamen. Der Zufall wollte es, dass im Unterricht gerade französischsprechende Dichter in Afrika durchgenommen wurden. Die Schüler studierten Werke von Léopold Senghor, Senegals erstem Präsidenten nach Erlangung der Unabhängigkeit von Frankreich 1960.

Der Namensvetter hatte es nicht leicht im Unterricht, die Lehrerin verlangte ihren Schülern viel ab. Aber er biss sich durch, klagte nie. Strahlte Würde aus. Hatte Tränen in den Augen, als Gedichte Aimé Césaires durchgenommen wurden.

„Ich werde abgeschoben.“ Im Frühjahr suchte er Hilfe bei seiner Lehrerin. Sie mobilisierte Kollegen, Amnesty International, letztendlich die Politik. Jeans Glück, wenn man das so sagen kann, war, dass er aus der Casamance kam – einer besonders konfliktgeladenen Region des Senegal. Seine Familie sei dort vor seinen Augen ermordet worden, so erzählte er. Er durfte bleiben, schaffte sein Abitur, besuchte auch nach dem Abschluss immer wieder seine alte Lehrerin, bedankte sich für ihre Hilfe. Aber nie überschwänglich. Er erzählte wenig über sich.

Später lud er sie zu seiner Hochzeit ein, noch später teilte er ihr mit, dass er ein Jura-Studium beginnen werde. Danach hörte sie nichts mehr von ihm. Manchmal dachte sie an ihn, aber ohne Sorgen. Er würde seinen Weg gehen.

Versuch einer Rekonstruktion

Doch die Ehe war nicht glücklich. Irgendwann kam heraus, dass Jean Senghor nicht Jean Senghor war. Aber wer war dieser Mann dann?

Hier der Versuch einer Rekonstruktion. Auch wenn sein Pass ihn als Senegalesen auswies, kam er aus Guinea-Bissau – auch seine ausgezeichneten Portugiesisch-Kenntnisse, die er meist zu verbergen suchte, verrieten ihn. Seine Familie wich während des Bürgerkriegs in den benachbarten Senegal aus.

Mit 19 oder 20 Jahren war er schon einmal in Deutschland und wurde hier Vater. Inoffiziell, die Mutter gab ihn nicht an in der Geburtsurkunde. Warum er dann zurückgegangen ist, ob er abgeschoben wurde, unter welcher Identität – unklar.

Unklar ist auch, wie er Jahre später das zweite Mal Europa erreichte. Da hatte er bereits ein Jura-Studium im Senegal hinter sich.

Für sein Ziel, als neuer Mensch in Deutschland neu zu starten, hat er offensichtlich viel getan. Vielleicht mehr als andere. Anders können sich Menschen, die den Berliner Jean Senghor kannten, nicht erklären, warum er in der senegalesischen Community keinen guten Stand hatte, sich von den Landsleuten fernhielt. Dabei unterschätzte er die elektronische Datenverarbeitung. Man kam ihm auf die Schliche, er hatte wohl mit Geld getrickst.

Aber wer dieser Mann stattdessen war, wusste auch seine Frau nicht. Er selbst wohl auch immer weniger. Er suchte Antworten im Alkohol, bekam psychische Probleme, die Ehe ging kaputt. Er verdiente sein Geld mit Hilfsjobs, die er immer nur für wenige Monate und sehr ungern ausübte.

Dann wurde ihm, ausgerechnet ihm, der seit Jahren unter einer anderen Identität lebte, Schizophrenie diagnostiziert. In der Psychiatrie wollte er nicht bleiben, zog in ein Männerhaus. Doch auch dort hielt er es nicht aus. Er entschied sich für die Straße. Für den nördlichen Treppenabsatz des Französischen Doms, bis zuletzt.

Das Grablicht auf dem Sockel war wenige Tage nach seinem Tod bereits verschwunden. Einzig eine vertrocknete Blume deutete noch darauf hin, dass hier bis vor kurzem ein Mensch gelebt hatte. Bald kam ein neuer junger Mann. Er zog in die andere Ecke des Treppenvorsprungs.

Der Leichnam des Mannes, der sich Jean Senghor nannte, wurde in den Senegal überführt. In das Land, aus dem er zwei Mal geflohen ist.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false