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Jasper Grau

© privat

Nachruf auf Jasper Grau: „Ich muss aber nicht üben“

Wozu soll er beweisen, dass er etwas kann? Das ist doch albern. Er studiert, übersteht die Coronazeit. Dann die Reise nach Italien.

Eine Mutter sitzt in der Studentenbude ihres Sohnes und muss Worte dafür finden, wer er war. Sie schaut aus dem Fenster, unter ihr die Wilmersdorfer Straße. So oft haben sie hier oben gesessen, Jasper und seine Freunde. Haben Dart gespielt, Filme geschaut, zusammen gekocht. Oder sie haben für die Matheklausur gelernt – alle außer Jasper. Der musste nicht lernen. Stattdessen lief er zwischen seinen Freunden hin und her, erklärte, korrigierte.

Nun huscht der Blick der Mutter hin und her, zwischen Kisten und abgehängten Bildern, der blauen E-Gitarre und den Schachbüchern, die noch dastehen. Sie packt gerade Jaspers Leben ein. „Ich bin froh, dass ich ihm so viel von der Welt zeigen konnte. Irgendwie war da immer diese Sorge in mir, dass ihm eines Tages etwas passieren könnte.“

25 ist sie, als sie Jasper auf die Welt bringt. Am 22. 2. 2002. Das Datum findet Jasper cool, niemand vergisst seinen Geburtstag. Einen Vater, der ihm gratulieren könnte, gibt es aber nicht. Die Mutter beginnt eine Ausbildung als Hebamme, das bedeutet Schichtdienst. Die Großeltern bringen ihn in die Kita, lesen ihm Gute-Nacht-Geschichten vor. Einmal sitzt Jasper auf dem Teppich und spielt, er ist gerade acht. Im Fernsehen läuft „Wer wird Millionär“. Günter Jauch fragt den Studiogast, wo US-Präsident Obama geboren wurde. „Auf Hawaii natürlich“, antwortet der Junge. Ob er überhaupt wisse, wer Obama sei, fragte die Oma. „Ja, eine Mischung aus dem Papst und Angela Merkel.“

Dann hinabzustürzen, scheinbar schwerelos

Als Jasper in die Schule kommt, kann er längst lesen, schreiben und rechnen. „Die Lehrerin hat gesagt, dass die Hausaufgaben zum Üben da sind. Ich muss aber nicht üben“, erklärt er seiner Mutter. Der Lehrerin sagt er, dass er sich doch schon im Unterricht langweilen würde, warum denn auch noch zuhause? Er überspringt zwei Klassen.

Ihrem Sohn soll es an nichts mangeln. Dafür spart die Mutter bei sich selbst, Essen gehen ist sowieso unnötiger Luxus. Da geht sie doch lieber mit Jasper in den Freizeitpark und fährt mit ihm eine Runde Achterbahn nach der anderen. Er liebt das, hinauf, bis ganz nach oben, dann hinabzustürzen, scheinbar schwerelos. In Jaspers Fußballverein fehlt es an Trainern, also macht die Mutter einen Trainerschein und übernimmt die Kinder-Mannschaft. Jasper kämpft um jeden Ball. Auch beim Kartenspiel muss er gewinnen, beim Schach. Hat er einmal gewonnen, dürfen das auch die anderen. Dann weiß er ja, dass er das kann.

Sie ziehen nach München, Jasper kommt aufs Gymnasium. Der Lehrer geht die Anwesenheitsliste durch, entdeckt Jaspers Geburtsdatum und ruft in die Klasse: „Wir haben hier ja noch ein richtiges Baby.“ Es wird ein Alptraum. Jasper, der um Himmelswillen nichts Besonderes ein möchte, steht im Fokus. Mitschüler erpressen sein Taschengeld. Mehrere hundert Euro drückt er ab, bis er endlich den Mund aufmacht. Zum Glück gibt es Ferien. Jasper und seine Mutter reisen nach Bali, in die USA, nach Sumatra. Sie tauchen mit Delphinen, umarmen Orang-Utans, Jasper baut überall seine Steintürmchen.

Als sein Opa stirbt, haut das Jasper um. Nichts klappt mehr, er muss die 7. Klasse wiederholen. Das ist seine Rettung, denn in der neuen Klasse findet er endlich Freunde. Fragt man sie, was ihn ausmacht, sagen sie, dass Jasper der Kleber ist, der alles zusammenhält. Er lädt alle zu sich ein, kocht, schlägt Treffen im Park vor und bringt den Fußball oder das Frisbee mit.

Freunde sind wichtig, Klamotten nicht

Für einen Freund bringt er Fingerhüte aus dem Urlaub mit. Einer Freundin schreibt er Karten. Der älteste von ihnen bekommt den Muttizettel mit, wenn sie auf Konzerte gehen oder auf Festivals. Muttizettel heißt, dass er die Aufsichtspflicht für den noch minderjährigen Jasper übernimmt.

Er war immer einer der kleinsten, jetzt wächst er 20 Zentimeter in einem Jahr. Ein schlaksiger Riese wird aus ihm, der sich immer kleiner macht, um nicht aufzufallen. Er teilt die Welt in wichtig und unwichtig ein. Freunde sind wichtig, Klamotten nicht. Die Schuhe reißen auf? Hauptsache die Sohle ist noch dran. Schule ist auch nicht wichtig. Wozu soll er beweisen, dass er das kann? Das ist doch albern. Zu den Prüfungen geht er, schreibt seine Eins oder Zwei, das musste er seiner Mutter versprechen.

Mit 17 hat er sein Abi. Jetzt will er etwas ganz für sich machen, ohne seine Mutter. Er läuft den Jakobsweg, 800 Kilometer von St. Jean in Frankreich bis Santiago de Compostela. Ende September macht er sich los, allein, mit Rucksack, Schlafsack und Zelt. Manchmal wird es in der Nacht kalt, dann friert er. Manchmal vergisst er, dass Sonntag ist und die Geschäfte geschlossen haben, dann trinkt er Quellwasser und isst Nüsse vom Wegesrand. Manchmal bucht ihm seine Mutter ein Hotelzimmer. Vier Wochen ist Jasper unterwegs.

Alle seine Freunde sind nach Berlin gezogen, also muss Jasper auch hier her. An der FU studiert er Meteorologie. Das Wetter, das Klima verstehen, vielleicht lässt sich die Welt noch retten. Endlich wird es spannend. Lernen muss er zwar immer noch nicht, Notizen macht er sich auch keine, aber er besucht alle Seminare. Er und seine Freunde überstehen den Corona-Winter in Jaspers Wohnung. Sie machen Karaoke-Abende. Jasper hat eine tiefe, raue Stimme. An einer Tür kleben gelbe Post-Its mit Filmen oder Serien, die sie noch schauen wollen. Manchmal machen sie sich schick, Jasper in Anzug und Hemd, und sie tun so, als ob sie in ein Restaurant gehen würden. Eine erste Freundin hat Jasper auch.

Der letzte Sommer, Jasper ist 20, sie fahren nach Italien. Es ist spät in der Nacht. Jasper und ein Freund gehen noch zum Strand. Sie baden, sie schießen sich einen Ball zu, dann laufen sie auf die Seebrücke, die weit ins Meer hineinragt. Jetzt da runterspringen und zurück zum Strand schwimmen! Aber die Wellen sind viel zu hoch. Der Sog des Wassers. Die großen Steine unter der Wasseroberfläche. Erst springt der Freund, dann Jasper. Unter größten Mühen schafft der Freund es zurück an Strand. Doch Jasper bleibt verschwunden. Küstenwache, Taucher, alle suchen. Fünf Tage später entdeckt ihn ein Fischer.

Zur Beerdigung schenkt die Mutter all seinen Freunden ganz viele kleine, rote Jaspis-Steine. Die sollen sie in die Welt tragen und an Orte legen, die sie mit Jasper gerne besucht hätten.

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