zum Hauptinhalt

© privat

Nachruf auf Hildegard Burdach: „Ich fühle mich viel jünger, als ich bin!“

Vor 104 Jahren ist sie vier Meter tief gefallen und fiel weich. Mit 40 konnte sie sich ein wenig Luxus im KaDeWe leisten.

Der 25. November 1915: Ein Donnerstag. In Berlin regnet es, aber dann und wann zeigt sich auch die Sonne. Albert Einstein stellt vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften zum ersten Mal den Kern seiner Allgemeinen Relativitätstheorie vor. In Chile wird Augusto Pinochet geboren. In der Sing-Akademie zu Berlin gibt es einen Vortrag mit Lichtbildern zum Thema: „Kampf, Heldentum und Waffe in der Natur“. In Italien werden Sondersteuern zur Deckung der Kriegskosten eingeführt. In Wien schreibt Arthur Schnitzler in sein Tagebuch: „Begann Ilias zu lesen.“ Bei Werthheim kostet ein Pfund Schmorfleisch 1,20 Mark, so lange der Vorrat reicht. Und Hildegard Burdach – oder Hilla, wie sie die meisten nennen – kommt zur Welt, im Kolk, dem ältesten Siedlungsgebiet Spandaus, wo die Leute in schiefen Fachwerkhäusern leben.

8. Juni 1919: Pfingstsonntag. Der Kaiser hat längst abgedankt und ist in die Niederlande geflohen. An jeder Straßenecke trifft man auf Einarmige und Einbeinige. Die Familie, Hillas Mutter ist Hausfrau, ihr Vater Tischler, wohnt jetzt in einer größeren Wohnung im ersten Stock eines Mietshauses, nicht weit vom Kolk. Hillas Mutter ist kurz los, um einzukaufen, die Dreieinhalbjährige klettert auf einen Küchenstuhl, der nah am Fenster steht, und dann auf das Fensterbrett. Sie öffnet das Fenster, schaut hinaus. Sie beugt sich ein wenig nach vorn, um besser zu sehen, was sich unter ihr abspielt. Und fällt, vier Meter tief.

Das Kind muss einen Schutzengel haben

Doch sie fällt weich. An der Stelle, auf der sie landet, wächst ein Gebüsch. Der Schreck, ein paar Kratzer, mehr nicht. Sie rappelt sich auf, läuft zum Hausmeister und erzählt ihm ihr Abenteuer. Inzwischen ist die Mutter zurück vom Einkauf, findet die aufgeregte Hilla und den aufgeregten Hausmeister, der beteuert: Das Kind muss einen Schutzengel haben.

1931 beginnt sie die Lehre in einem Pelzmodengeschäft in Spandau und wird schließlich als Verkäuferin übernommen. Die Bezahlung ist dürftig, aber es geht dort familiär zu. 1938 verliebt sie sich beim Tanz, heiratet, kündigt im Pelzladen, worauf der Besitzer unaufhörlich jammert: Unsere Hilla wird uns verlassen. Sie zieht nach Fürstenwalde, wo ihr Mann stationiert ist. 1943 bringt sie einen Sohn, Günter, zur Welt. Günter wird seinen Vater nicht kennenlernen. Am 25. Dezember desselben Jahres erhält Hilla die Nachricht, dass ihr Mann in Stalingrad umgekommen ist.

Er war nicht nur einfacher Soldat, er gehörte einer SS-Einsatzgruppe an. Hat Hilla diese Tatsache im Rausch der Verliebtheit ausgeblendet? Oder hat sie die Zustände einfach genommen, wie sie waren, und sich aus allem Politischen herausgehalten?

Hilla hat nie darüber gesprochen. Erst vor wenigen Jahren fand Günter Briefe seines Vaters, in denen dieser berichtete, er habe die Erschießung von Unbeteiligten durch deutsche Nachrücktruppen mitbekommen, sich daraufhin bei seinen Vorgesetzten beschwert und sei schließlich aus der SS ausgetreten. Zur Strafe habe man ihn an die vorderste Front zwangsversetzt.

Die SS-Zugehörigkeit ihres Mannes, seine Briefe hat Hilla offensichtlich verdrängt. Für sie war ihr Mann ein Soldat, der, wie so viele, gefallen ist, und den sie sehr vermisste.

Sommer 1945. Wieder Einarmige und Einbeinige an jeder Straßenecke. Hilla verdient etwas Geld bei einer so genannten Kartenstelle, wo sie Lebensmittelmarken verteilt. 1955 nimmt sie eine Beschäftigung im Krankenhaus Lynarstraße, dem heutigen Klinikum Spandau, an, arbeitet sich innerhalb kürzester Zeit von einer einfachen Angestellten empor zur Leiterin der Hauswirtschaftsabteilung.

Sie fährt ihre Eltern im VW Käfer durch Berlin

Sie ist jetzt knapp über 40 und kann sich endlich ein wenig Luxus leisten. In ihren Augen gibt es für dieses Anliegen nur einen geeigneten Ort: das KadeWe. Sie betritt die Eingangshalle und der Genuss beginnt: schimmernde Steine auf samtenen Kissen in der ersten Etage, Champagner in der sechsten, überall Verkäufer, die nur auf sie zu warten scheinen. Vor allem zieht es Hilla in die Blusenabteilung. Sie liebt es, eine nach der anderen zu berühren, zu probieren, wenn sie nur weiß sind, bunte Blusen lässt sie grundsätzlich hängen.

1976, sie ist jetzt 60, geht Hilla in Rente. Sie setzt ihre Eltern, die beide älter als 95 werden, in ihren roten VW-Käfer und fährt mit ihnen durch Berlin. Sie besucht Freunde, spielt Canasta, lädt groß zu ihren Geburtstagen ein, 40 Leute an einem Tisch, es ist ihr kaum etwas wichtiger als der Zusammenhalt in der Familie.

1998, sie ist 83, gibt sie ihre Wohnung auf und zieht in eine Seniorenresidenz.

2008, sie ist 93, verbringt ihr Sohn seinen 65. Geburtstag mit seiner Frau in einem Robinson-Club auf Fuerteventura. Hilla findet, dass es eine wunderbare Idee wäre, ihn dort zu überraschen. Sven, ihr Stiefenkel, der Sohn von Günters Frau, mit dem sie häufig Ausflüge unternimmt, besorgt ihr ein Flugticket und bringt sie nach Tegel, wo sie eilig voranschreitet, Sven kommt mit dem schweren Koffer nur mühsam hinterher. Kaum hat sie den Club erreicht, läuft ihr ihre Schwiegertochter über den Weg. Erblickt Hilla und wird vor Schreck und Verblüffung fast ohnmächtig.

2015, Hilla ist 99, zieht sie noch einmal um, in ein Altenstift. Sven setzt ihr eine Porsche-Brille auf und kurvt mit ihr in seinem Cabrio durch die Stadt. Sie sagt: „Ich fühle mich viel jünger als ich bin!“ Sie gehen ins KadeWe, essen und trinken eine Kleinigkeit und gucken sich dann ein bisschen in der Blusenabteilung um.

2019, Hilla ist 104, steht sie mit ihrem Enkel vor dem Küchenfenster, aus dem sie vor 100 Jahren gefallen ist. Das Gebüsch gibt es nicht mehr.

6. März 2023, Hilla ist 107. Alle sprechen wieder vom Krieg. In Berlin fällt etwas Schnee auf die Blüten der ersten Krokusse. Hilla stirbt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false