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Nachruf auf Hans-Günter Menzler: Immer der Tod

Dass er nicht Pfarrer wurde, verkraftete er gut. Was aber blieb, war seine Angst vorm Unabwendbaren

Es ging um Luther, um seinen Konflikt mit den kirchlichen Autoritäten, seinen Kampf gegen den Ablasshandel. Und um seine antijüdischen Ausfälle. Hans stürzte sich in diese Aufgabe, wie er sich immer in alles stürzte, was ihn interessierte. Wenn er diese Examensarbeit geschrieben hatte, würde er Pfarrer werden, das war das Ziel.

Warum Pfarrer? Weil er in den 50ern bei einer Pastorenfamilie in Hannover untergekommen war, nach einem langen, gefährlichen Hin und Her. 1943 die Flucht vor den Bomben, zusammen mit seiner Schwester und seiner Muter, von Berlin nach Oberschlesien, ein Jahr darauf weiter nach Niederschlesien, 1945 zurück nach Berlin, auf einem Schlitten, auf einem Pferdewagen, zu Fuß, unterwegs die Ruhr, an der er fast gestorben wäre. Nach der Befreiung in den Harz zu seiner geliebten Tante Ida, bei der er für sein Leben begriffen hatte, dass Wärme und Verantwortung alles sind, die er 1948 jedoch wieder verlassen musste, weil es weiterging Richtung Westdeutschland, nach Vienenburg in Niedersachsen. Von Wärme dort keine Spur. Sein Vater war traumatisiert aus dem Krieg und der Gefangenschaft wiedergekehrt, die Wohnung zu winzig für vier Personen, dazu die zermürbenden Streitereien. Nach dem Abitur machte sich Hans davon, wurde von dem freundlichen Pastor aufgenommen und geriet auf den Theologenweg.

Er schrieb sich in Göttingen ein, legte das Latinum, das Graecum, das Hebraicum ab, las ununterbrochen, schrieb, begleitete nebenbei in der Uniklinik sterbende Menschen, lernte Marlis kennen, die auch im Krankenhaus arbeitete, sie heirateten, bekamen das erste Kind, Christina, jetzt fehlte nur noch der Abschluss. Hans versank in den Büchern, formulierte, strich aus, formulierte neu, setzte den letzten Punkt, gab die Arbeit ab und wartete.

All die großen Themen, Gott, Politik, die Nazizeit

Das Urteil des Professors kam vollkommen unerwartet: Zu lang, zu wenig fokussiert, vor allem entschieden zu marxistisch. Nicht bestanden. Ein Schock. Die Demütigung des Scheiterns. Er hatte alles gegeben, all die großen Themen, Gott, Politik, die Nazizeit, die Rolle der Kirche, Krieg, Frieden, der Tod. Immer der Tod.

Ein Leben lang sagte er: „Ich sterbe!“, einfach so, „Ich sterbe!“ Immer war da diese unsägliche Angst zu sterben. Obwohl er so sehr lebte, ein zweites Kind mit Marlis bekam, Markus, obwohl er Italien so liebte und das Meer, die Menschen, Frauen ganz besonders, klassische Musik, Verdi, in dessen Geburtsort Le Roncole er fuhr und dem er ähnlich sah, der Bart, die markante Nase, die ein wenig unordentlichen Haare, dessen Bild in Plakatformat er über sein Bett hängte. Vielleicht waren es die Bomben, die brennenden Häuser, der gebrochene Vater, die knapp überstandene Krankheit als Kind, die Scham als Deutscher, die in ihm diese existenzielle Furcht vor dem Tod so übergroß machte.

Unter passivem Fatalismus litt er aber keineswegs. Er wehrte sich, auch noch im Alter, legte sich mit den Behörden an, der Krankenkasse, dem Stromanbieter, wenn der zu viel berechnet hatte. Auch dem verpassten Pfarrerstraum trauerte er nicht unnötig lange nach. Er wurde Bibliothekar, erhielt eine Beamtenstelle am Institut der Evangelischen Theologie der Freien Universität und zog nach Berlin. Marlis und die Kinder sollten nachkommen. Nur hatte sich Marlis unterdessen in seinen Freund Klaus verliebt. Es heißt, Hans habe in Berlin ebenso eine Freundin gehabt. „Na gut“, sagte er also zu Marlis, „wenn du mit diesem Mann besser klarkommst, bitte.“ Sie ließen sich scheiden, und Hans fuhr alle vier Wochen nach Göttingen, um seine Kinder zu sehen. Natürlich wurde er in ihren Augen zum idealen Vater, ohne das Einerlei des Alltags kein Kunststück. Der paradiesische Abenteuerspielplatz etwa, den er gemeinsam mit anderen bei den Behörden durchsetzte, an einem Ort, wo ursprünglich ein Parkplatz hin sollte. Eine Riesenrutsche gab es, ein Wasserbassin, eine Feuerstelle.

Mit 14 zog die Tochter Christina zu Hans nach Berlin, er holte sie mit seinem hellblauen Käfer in Göttingen ab, hintendrauf ein Anti-Atomkraft-Aufkleber, der die DDR-Grenzer dazu veranlasste, den Wagen komplett auseinanderzunehmen. Er war jetzt alleinerziehender Vater, und die Pubertät der Tochter, die Verführungen der Großstadt kosteten ihn manchmal Nerven, was ihre enge Beziehung aber nicht beschädigte. Als Christina selbst Kinder hatte, zeigte er sich als Bilderbuchopa, der auch das adoleszente Gepolter der Enkel gut auffing. „Hätte ich damals gewusst, wie anstrengend die Pubertät für Eltern würde…“, sagt Christina und lacht.

Die Wohnung ihres Vaters war ein Papierort, Bücher überall, Literatur über Faschismus und Widerstand, Theologisches, Philosophisches, Kant, Thomas von Aquin, politische Hefte. Im Arbeitszimmer standen drei Schreibtische, alle bepackt mit Dokumentenstapeln. Er initiierte Stolpersteinverlegungen, fuhr nach Auschwitz, hielt Vorträge in der Erinnerungsstätte „Topographie des Terrors“, ging jeden Mittwoch zur Zwölf-Apostel-Kirche, um Kaffee zu kochen und Gemüse zu schnippeln und Suppe an Bedürftige auszuteilen. Eine Geigerin durfte bei ihm zu Hause ihre Partituren üben. Er lernte Elena kennen, eine junge Italienerin, sie trafen sich regelmäßig, sie schrieben Briefe, eine letzte, eine platonische Liebe.

Hans lebte, und er wiederholte immer wieder diesen Satz: „Ich sterbe!“

„Sie haben die Blutwerte eines jungen Mannes“, sagte der Arzt. Bis auf seine Hüftarthrose gab es keine Krankheiten.

Im Juni jedoch stürzte er, konnte sich kaum mehr bewegen. Jeder Tag ein ewiges Liegen, immer nur der Blick hinaus aus dem Fenster, hinauf in den Himmel. Am 11. Oktober starb er. Einige Tage danach lag ein Umschlag für ihn in der Post, die Novemberausgabe der Zeitschrift, die er Jahrzehnte abonniert hatte, die „Blätter für deutsche und internationale Politik“.

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