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Fe Reichelt

© privat

Nachruf auf Fe Reichelt: Die Überströmende

Sie tanzte. Dann heiratete sie, bekam Kinder. Über ihre Scheidung schrieb sie: „Es ergab sich, dass es gut für mich war.“ Denn nun konnte es weitergehen mit dem Tanz

„Ich tanze bis zur Urne!“ Niemand, der sie kannte, hielt das für einen Scherz. Denn wenn Fe sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie das durch. Mit einem Jahr war sie fast an Brechdurchfall gestorben. So nah ihr Tod damals schon gekommen war, so fest klammerte sie sich fortan ans Leben. Sie überlebte einen Hirntumor, einen Herzinfarkt, und als im hohen Alter die Hüften ihren Dienst versagten, atmete sie den Schmerz einfach hinweg. Als sie dann endlich doch einen Orthopäden aufsuchte, beugte der sich verwundert über die Röntgenbilder: „Alles zerbröselt!“ Mit den neuen Hüftgelenken sprang sie dann wieder so munter herum, wie sie es von Kindesbeinen an getan hatte.

In Peking wurde sie geboren, zwei Brüder, der Vater Augenarzt, die Mutter Sinologin aus Leidenschaft. Fes Pate war Richard Wilhelm, der berühmte Übersetzer des „I Ging“, des „Buchs der Wandlungen“. Er gab ihr auch den chinesischen Namen, Fe, was so viel schöner klingt als der Name, den die Eltern ihr gegeben haben, Friederun. Fe, die Überströmende. Sie hatte eine chinesische Amme, und sie lebte in diesem fremden Land, als wäre es ihre Heimat. In ihrem Denken blieb es das auch.

Die Traumtänzerin blieb unbehelligt von den Schrecken

Als sie elf Jahre alt war, kehrte die Familie nach Deutschland zurück. Auch der jüngere Bruder, der Soldat werden musste, überlebte den Krieg, aber nur Fe, die Traumtänzerin, blieb so unbehelligt von all den Schrecken um sie herum, dass ihre Berufswahl keinen wirklich überraschte. Über das Ballett kam sie zum Kunsttanz, seinerzeit noch eine recht unseriöse Berufswahl in den Augen vieler.

Sie ging nach West-Berlin zu Mary Wigman, der Meisterin des Ausdruckstanzes, nahm ein Engagement beim Zirkus Knie in der Schweiz als Revuetänzerin an, um endlich eigenes Geld zu verdienen, und tat dann doch das, was ihre Eltern von ihr erwarteten. Sie heiratete und bekam pflichtgemäß drei Kinder. 13 Jahre gab sie nicht ohne Mühe die fürsorgliche Erzieherin und Ehefrau, bis ihr Mann sie betrog. „Es ergab sich“, vermerkte sie lakonisch in einem ihrer Bücher, „dass es gut für mich war, mich scheiden zu lassen.“

Sie zog aus, nahm die Kinder mit und eröffnete ein Tanzstudio in Düsseldorf, was einigermaßen waghalsig war, denn viel Geld besaß sie nicht. Aber sie fand Schülerinnen. Und sie wandelte sich von der Tänzerin zur Tanztherapeutin. Sie fand in einem Jugendfreund ihren zweiten Ehemann, der auch weiterhin mehr Freund als Geliebter blieb, und, viel wichtiger für sie persönlich, sie eröffnete immer neue Tanzschulen, erst in München, dann in Frankfurt und schließlich in Berlin.

„Sei großmütig und liebevoll mit dir.“

Was bei all den Wechseln blieb, und immer stärker wurde: ihr Glaube an den Tanz als Therapie. Bewegung ist Wandel des Selbst, und dieses beständig sich Wandelnde spürst du am eindringlichsten beim Atmen. Sehr sanft hat sie in ihren Übungsstunden die Aufmerksamkeit auf den Atem gelenkt. Sich dehnen, die Lungen weiten, den Atem dahin schicken, wo er guttut. Das alles mit Ruhe, Mamandi, hab Geduld. „Lass dich nicht kränken von dir selbst und sei großmütig und liebevoll mit dir.“

Du wirst deinen Weg schon finden. „Ja, aber wohin führt der Weg“, fragten ihre Kinder sie zuweilen in der Erwartungen verbindlicherer Erziehungsrichtlinien. Fe aber überließ jeden sich selbst. „Ich zeige mich dir, ich bin da, und ich lasse dich.“ Für ihre Schüler und Schülerinnen war das ein Glücksversprechen, denn es half ihnen, ihr Selbst zu finden. „Lebenslang Aufbruch“.

Dieses Selbst steckt nicht nur im Kopf, es steckt auch im Körper. Zuweilen so fest im Körper, dass es schmerzt. Tanzen kann da befreiend sein, wenn es hilft, aus sich herauszugehen. Was allerdings nur gelingt, wenn die Bereitschaft zur Übung vorhanden ist. Da war sie streng. In der Ausarbeitung ihrer Übungen, die sie vielfach in Filmen und Texten dokumentiert hat, aber mehr noch in der Forderung an ihre Schüler, sich den eigenen Fähigkeiten gegenüber wach und aufgeschlossen zu zeigen. Diese Begeisterung war befreiend, aber zuweilen auch etwas befremdend für Außenstehende. Denn sie scheute sich nicht, im Flugzeug die Füße weit nach oben in die Luft zu strecken, anstatt sie eng auf dem Boden stehenzulassen. Bedenken konterte sie mit einem alten chinesischen Weisheitsspruch, den sie eigens für die Situation erfand: „Schämen tun sich immer nur die anderen!“

Diese Unbefangenheit, diese Freude, jeden Tag neu und von vorn zu beginnen, schloss eine gewisse Leichtgläubigkeit ein, die im Alltag zuweilen Probleme schaffte. Sie vertraute selbst Handwerkerrechnungen und Verträgen mit Telefongesellschaften, was sie zuweilen in Nöte brachte, die keine wirklich existenziellen waren. Deshalb hat sie auch nie über alltägliche Probleme geklagt. Sie erhielt sich die leidenschaftliche Beziehung zu ihrem Körper und verstand es immer wieder, sich genau so im Leben einzurichten, wie es ihr guttat. „Dem Weggehen zugewandt.“ Denn, ob dein Denken dich trägt, zeigt sich erst, wenn der Tod naht.

Als Fe ins Altersheim kam, weil die Gebrechen sich mehrten, gab sie sofort Anschauungsunterricht in der Frage, was es heißt, in Güte mit sich selbst alt zu werden. Im Rollstuhl sitzend hob sie plötzlich die Arme weit nach oben und rief: „Gestern ist vorbei, morgen wissen wir noch nicht, was kommt. Ich bin!“

Sie war nun 95 Jahre alt, aber nach wenigen Wochen schon bot sie ihren Mitbewohnern einen Kursus mit Atemübungen an, der ob ihrer Strenge berüchtigt war: „Theorie ist gut, ich möchte Taten sehen!“

Als sie das Ende nahen spürte, bat sie eine Freundin zu sich. „Tanze mit mir in den Himmel hinein.“ So der unausgesprochene Wunsch. „Sehr berührt“, erzählt die Freundin, „hat mich ihr Wunsch, dass ich meine Finger auf den höchsten Punkt ihres Scheitels auflege. Dazu sprach sie von der Öffnung zum Himmel und der Verbindung von Himmel und Erde. Dazwischen immer wieder Mamandi und Pause. Irgendwann tanzten wir zusammen einen sehr langsamen und zarten Tanz mit den Armen. Sie hat die ganze Zeit gelächelt.“ Eine Stunde nach ihrem Tod hat sie noch immer gelächelt. Sie sah so schön aus.

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