zum Hauptinhalt
Falco Werkentin

© Colleen Neff

Nachruf auf Falco Werkentin: Das war nun also diese freie Welt

Mit 17 kletterte er über die Mauer. Und bekam 6 Zigaretten und eine Einweisung in die Etikette der bürgerlichen Gesellschaft

Von David Ensikat

Er war schon sehr lange kein „Würmchen“ mehr, kein „Wunderkind“. Ein angesehener Fachmann für die DDR-Justiz war er, Ehemann, Vater, Großvater. Da erhielt er einen Brief von seiner Mutter. Ein Freund hatte ihn in einem Antiquariat gefunden, Zufall, er lag da in einem Buch, im geöffneten Couvert. Es war ein Brief, den die Mutter zwei Wochen vor Falcos Geburt an eine Freundin in Berlin geschrieben hatte, „Liebes Pinchen“.

Sie berichtet, wie schwer es ihr gefallen sei, wieder nachhause, nach Tangermünde zu fahren, aber was sollte sie tun, so kurz vor der Niederkunft. Sie war in Berlin gewesen, bei Ronald, dem Vater des Kindes, das sich in ihrem Bauch befand und ihr, wie sie klagte, das Leben seit neun Monaten recht schwer machte. Wie gern wäre sie bei Ronald geblieben. Er war Schauspieler, fast 50 und musste wegen des Krieges in einer Fabrik schuften. Er brauche sie so sehr. Nach der Geburt werde sie auch wieder zu ihm fahren. Ihr „Wunderkind“ würde sie mit gutem Gewissen zurücklassen: „Mein Kleines wird es hier sehr guthaben. Meine Schwester und Schwägerin sind jetzt schon eifersüchtig, wer für das Würmchen zu sorgen hat.“

Vier Tage nach der Geburt hat sie das Kind zurückgelassen wie auch den Rest der Welt. Ein Unfall, sie stürzte eine Treppe hinab und starb.

Der Brief, den Falco Werkentin Jahrzehnte später las, enthielt die einzigen überlieferten Worte seiner Mutter.

„Hier kommt ein Überflieger“

Bei einer Tante in Tangermünde ist er aufgewachsen. Der Vater lebte in Westdeutschland. Als Falco 16 war, starb die Tante und er zog zu einer anderen nach Berlin Weißensee. Das war hart, denn er hatte sich wohlgefühlt in der kleinen Stadt an der Elbe. Im Pionierhaus hatte er an elektronischen Geräten gebastelt, in der Schule hatte er die besten Noten.

In der neuen Klasse in Berlin stellte ihn der Lehrer so vor: „Hier kommt ein Überflieger.“ Folglich bekam Falco kein Bein auf den Boden. Wer wollte mit so einem zu tun haben? Außerdem war es die Zeit politischer Spannungen, das Jahr 1961. Bekenntnisse zu Staat und Sozialismus waren gefragt. Falco fuhr gern nach West-Berlin ins Kino, kleine Fluchten aus dem grau-roten Einerlei.

Damit war es vorbei, als sie im August die Mauer bauten. Im September begann Falco eine Lehre – ein Abitur war für ihn nicht vorgesehen – und da ging es noch harscher zu als in der Schule. Im November beschloss er, mit einem Freund in den Westen abzuhauen. Was hatte er schon zu verlieren?

Zwei Tage nach seinem 17. Geburtstag haben die beiden die Seiten gewechselt, mitten in Berlin. Den Stacheldraht durchschnitten sie mit Blechscheren, die Mauer war noch nicht so hoch, die Grenzer standen 100 Meter entfernt.

Wenn er später von seiner Ankunft im Westen erzählte, erwähnte er zwei prägende Situationen. Zuerst waren da die Zigaretten. Im Auffanglager bekam er zur freundlichen Begrüßung ein Sechserpäckchen „Peter Stuyvesant“. Vom Rauchen kam er bis ans Lebensende nicht mehr los. Und dann die Sache mit dem Handkuss. Nach dem Lager kam er für kurze Zeit bei Freunden seines Vaters unter. Der Hausherr war Doktor, die Hausherrin folglich Frau Doktor, der man mit der höchsten Aufmerksamkeit zu begegnen hatte. Das lehrte ihn sein Vater, der zu Besuch war, um dem Sohn, zu dem er keine weitere Beziehung hegte, wesentliche Umgangsformen vorzustellen. Einer Dame und Frau Doktor habe man mit Handkuss zu begegnen. So so, das war nun also diese freie Welt.

Worum sonst sollte er sich kümmern als um die Revolution?

Nicht ganz. Nach dem Abitur, das ihn einige Mühe gekostet hatte, begann er ein Studium, allerdings kein technisches, das zu ihm gepasst hätte: Er war eher von praktischer Natur. Die Stimmung in seinen Kreisen, junge Leute mit Zigaretten im Mundwinkel, West-Berlin, Mitte der Sechziger, war jedoch alles andere als pragmatisch. Es ging nicht um die individuelle Neigung des Subjekts, sondern um objektive Bedürfnisse der Gesellschaft. Was sonst sollte er studieren als Soziologie?

Und worum sonst sollte er sich kümmern als um die Revolution? Als die Revolutionäre sich in Kleingruppen aufgliederten, von denen jede den besten Weg ins Paradies kannte, entschied er sich für die Maoisten von der KPD-ML. Ein Besuch in Maos China ließ allerdings Zweifel am Paradies aufkommen. In Albanien sah es auch nicht so schön aus.

Dafür lernte er Karla kennen, angehende Lehrerin und ebenfalls zeitweilige Maoistin, die er, anfangs jedenfalls, mit seinen Kenntnissen der reinen Lehre beeindruckte. Ihre Liebe zueinander überdauerte die Liebe zur Lehre. Sie bekamen zwei Töchter.

Glücklicherweise hatte Karla ein sicheres Einkommen, und Falco erbte etwas Geld vom Vater. Denn von der Soziologie konnte er nicht leben. So fleißig er war, so erfolgreich er publizierte, seine Bewerbungen an Universitäten wurden ausgeschlagen. Einen Maoisten wollte niemand, auch keinen ehemaligen.

Doch wie gesagt, er war von praktischer Natur. Er verdiente Geld mit Klempnerarbeiten.

Der Fall der Mauer, welche Falco Werkentin 28 Jahre zuvor überwunden hatte, war für den Wissenschaftler, der er geblieben war, ein großes Glück. Denn mit dem Ende der DDR begann ihre Aufarbeitung. Und er fand nicht nur ein neues Forschungsgebiet, sondern, mit 48 Jahren, auch seine erste feste Anstellung: Stellvertreter des Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.

Die Stelle war wie gemacht für ihn, oder er für sie. Er kam aus der DDR und hatte dennoch viele Erfahrungen mit der Westbürokratie. Er schrieb ein Standardwerk über die DDR-Justiz und war auch durch die eigene brüchige Biografie hervorragend geeignet, sich mit den Schicksalen derjenigen zu befassen, die nicht konform waren und Heftiges durchgestanden hatten. Er konnte sehr gut die Täter von den Opfern unterscheiden, doch er wusste eben auch, dass diese in ihrer reinen Form eher selten anzutreffen sind. Die vorherrschende Tönung des Ostens war Grau, nicht Schwarz und Weiß.

Für den Ruhestand war er nicht gemacht. Der Schreibtisch blieb sein liebster Aufenthaltsort. Und er starb plötzlich, unerwartet.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false