zum Hauptinhalt
Dagmar Kölbel

© privat

Nachruf auf Dagmar Kölbel: „Niemand treibt mich“

Man muss reden, es gibt so viel zu erklären und zu klären, das über den technisch-medizinischen Vorgang hinausreicht

Eine Zelle - zwei Zellen - ein Wesen wie ein Fisch, zwischen den Fingern und Zehen Schwimmhäute, die wieder verschwinden - ein Mensch. Evolution en miniature, neun Monate. Und dann soll plötzlich alles ganz schnell gehen. Atmen Sie! Pressen Sie! Na los, mit aller Kraft!

Dagmar Kölbel, Oberärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe im Krankenhaus Havelhöhe, drängte niemanden. In einem Filminterview sagt sie: „Geht weg davon, zu denken, der Muttermund müsse in einer Stunde einen Zentimeter aufgehen. Das ist eine mechanistische Vorstellung, die kann man auf Geburten gar nicht übertragen.“

Allein die erste Begegnung zwischen ihr und den werdenden Eltern. Keine Anweisung. Eine Frage: Was kann ich für Sie tun? Die Antwort musste nicht schnell kommen, auch wenn vor ihrem Arztzimmer andere warteten. Kein forscher Griff, wenn sie die Lage des Kindes bestimmen wollte, sondern zunächst wieder eine Frage: Darf ich sie berühren? Um erst dann vorsichtig den gewölbten Bauch abzutasten.

Zeit war nicht abgesteckt, Gespräche und Untersuchungen dauerten, so lange sie dauern mussten. „Niemand treibt mich“, sagte Dagmar. Im Krankenhaus „Maria Heimsuchung“, in dem sie zuvor gearbeitet hatte, nörgelten die Chefs ab und an, wenn sie sie suchten, aber nicht fanden: „Kölbel quatscht wohl schon wieder.“ Als hätte sie es sich mit den Eltern bei Keksen und Käffchen gemütlich gemacht.

Die Geburt einer Familie

Aber man muss reden, es gibt so viel zu erklären und zu klären, so vieles, das weit über den technisch-medizinischen Vorgang hinausreicht, gerade bei heiklen Schwangerschaften. Dazu braucht man Zeit und Ruhe. „Bei einer Geburt“, sagte Dagmar, geht es nicht nur um die Entbindung, sondern um die Geburt einer Familie!“

Wenn ein Baby tot geboren wurde - wenn die Eltern nur während der Schwangerschaft mit diesem Kind zusammen sein konnten, als es sich noch im Bauch bewegt hat, wenn sie ihm über Monate Worte zugeflüstert, es vielleicht schon bei seinem Namen genannt haben - dann sorgte Dagmar dafür, dass solch ein Kind nicht sofort weggeschafft wurde, sondern noch bei Mutter und Vater bleiben konnte, ein, zwei Tage. Zeit, ums sich sein Gesicht einzuprägen, ihm über die Stirn zu streichen.

Dagmar hatte den Chefs im Pankower Krankenhaus „Maria Heimsuchung“, Männer allesamt, Vorschläge unterbreitet: Wie man Abläufe strukturieren kann, dass sich niemand gehetzt fühlt. Wie man Hierarchien aufweicht. Ihre Vorschläge wurden abgetan. 2009 begann sie in Havelhöhe. „Hier bin ich Kölbel“, sagte sie. Und meinte: Hier bin ich die, die ich schon lange war.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Die Jahre in Pankow waren gute, bestimmende Jahre gewesen. Sie hat dort eine Menge gelernt. Doch den hohen Krankenhaustakt empfand sie einengend, Schwangerschaft und Geburt zu oft auf ein rein physiologisches Geschehen reduziert.

Ihre eigenen beiden Geburten, damals in den Achtzigern, verliefen unproblematisch. Alles ging zackig, weil es zackig zu gehen hatte, mit dem typischen Mangel an Feingefühl. Den sie kannte. Nicht nur aus dem Krankenhausbetrieb, sondern sozusagen von langer Hand her. Ihre Mutter war eine strenge Frau, die pedantisch auf Etikette achtete. Sitz gerade, nimm die Ellbogen vom Tisch, mach dies, denk das. Dagmar hörte nicht auf, um ihre Anerkennung zu kämpfen. Die Anerkennung, die die Mutter, an Dagmars Freundinnen großzügig verteilte. Bei der eigenen Tochter schien nichts zu reichen, weder das sehr gute Abitur, noch das Medizinstudium, noch der Aufstieg zur Oberärztin.

Dagmar wuchs in Kühlungsborn an der Ostsee auf. Als ihre Mutter ihr Lehramtsstudium in Berlin beendete, blieb sie zwei Jahre bei der Tante. Wartete auf die Wochenenden, an denen die Mutter den Zug hätte nehmen können, um wenigstens ein, zwei Tage zu ihr zu kommen. Aber sie kam nicht. Sagte, es führen keine Züge. Dagmar sah in die Fahrpläne. Es fuhren Züge. Ihr Vater, ein Marinearzt, wollte zeitlebens nichts mit ihr zu tun haben.

Mit 15 setzte sie sich allein und heimlich in den Zug, um eine Freundin in Thüringen zu besuchen, wurde aufgegriffen und zurück zur Mutter gebracht. Der Vorfall wurde in ihrer Stasi-Akte vermerkt, die im Lauf der Jahre anschwoll. Sie war zum Studium nach Berlin gezogen, hatte einen Pfarrer geheiratet, zwei Söhne bekommen, sich scheiden lassen. Lebte in Prenzlauer Berg in einer Hausgemeinschaft, die ausufernde Hoffeste feierte und Kontakte zu Solidarnosz-Leuten und Westdeutschen unterhielt.

Die Chirurgie gefiel ihr auch

Ein Stasimann notierte nach einem Treffen nur: „Erzählt nichts.“ Ihre Entscheidung für das katholische Krankenhaus „Maria Heimsuchung“ führte dazu, dass sie „unter einer Käseglocke“ arbeitete, so nannte sie das, halbwegs ungestört von der Gängelei des Sozialistenstaats.

Mit 17 wollte sie Psychiaterin für Jugendliche werden. Man habe es ihr ausgeredet, erzählte sie später, sagte aber nicht, wer. Und die Chirurgie gefiel ihr ja auch. Handchirurgin würde sie werden, das Talent dazu wurde ihr immer wieder bescheinigt. Aber dann entschied sie sich für die Stelle bei den Katholiken, wegen der Kinder, für die sie so mehr Zeit haben würde.

Sie überschüttete ihre Söhne mit Liebe. Sparte nicht auf irgendwelchen Firlefanz, ein großes Auto, teure Kleider, sondern schickte die Söhne mit dem Geld in die USA.

Wurde von so vielen gerufen, auch für die Geburten der Freundinnen und Kolleginnen. Fuhr, selbst während ihres Urlaubs, mitten in der Nacht los, und saß am nächsten Morgen wieder am Frühstückstisch.

Über alles wurde dort gesprochen, Politik, private Wirrnisse. Wir sind eine Debattenfamilie, sagt ihr jüngster Sohn. Das war manchmal schön und manchmal anstrengend. Er lacht.

Für die Zeit nach der Arbeit, hatte Dagmar eine psychotherapeutische Ausbildung geplant. Sie überlegte, wieder ans Meer zu ziehen. Sie wollte herumreisen und Großmutter werden. Sechs Tage, bevor sie starb, ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall, das ist nicht klar, half sie einem Kind, zur Welt zu kommen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false