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Carsten Grohne

© privat

Nachruf auf Carsten Grohne: Habt euch doch nicht so!

Als er sich auch noch für die „Gay Games“ engagieren wollte, sagte sein Freund: „Dann bin ich weg!“

Die Toleranz beginnt gleich früh im Badezimmer. Nivea hilft: Auf dem fahlen Morgengesicht reichen ein, zwei Tupfen der weißen Creme, deren Dose nicht mehr nur noch einfach blau ist. Auf dem Deckel prangt die Regenbogenflagge. Auch zur Mittagszeit ein freigeistiges Bekenntnis. McDonald’s bietet „Rainbow Sticks“ an, Regenbogen-Fritten aus Süßkartoffeln, Pastinaken und Roter Beete. Und bei der Deutschen Bank kann, Minderheiten gegenüber ganz aufgeschlossen, ein Geldgeschäft erledigt werden, mit der LGBTQ-Fahne an der Eingangstür wird darauf verwiesen. Die Welt ist vielfältig und liberal, jeder kann es sehen, alles so schön bunt hier.

Ist ein queerer Sportverein dann überhaupt noch notwendig? Zumal in Berlin? Carstens Freunde und Stefan, sein Ehemann, antworten prompt und kraftvoll und wie aus einem Munde: „Ja!“ Man braucht auch heute noch einen geschützten Raum. Einen Bereich, in dem man nicht beäugt oder unverhohlen angestarrt wird, und wo man keine schlüpfrigen Bemerkungen oder offenen Beschimpfungen zu hören bekommt.

Das Duschklischee zum Beispiel. „Um Sport geht’s euch doch eigentlich gar nicht, haha.“ Ein frischer Scherz, mehr nicht, also wirklich, habt euch doch nicht so. Oder das Badminton-Turnier. Als sie vor diesem Typen am Empfangstresen standen und der zwitscherte: „Ihr seid die vom Vorspiel, nicht? Die Mädchenkabinen sind da hinten“, um daraufhin ausgiebig über seinen Witz zu kichern.

Das alles gibt es nach wie vor, mögen noch so viele Regenbogenfahnen in der Stadt flattern.

Der „Vorspiel-SSL Berlin“, der Sportverein für Schwule und Lesben Berlin, 1986 gegründet, ist mit 1500 Mitgliedern und 30 Sportarten einer der größten queeren Sportvereine in Europa.

Nichtmal zu Hause, in den eigenen vier Wänden

Am Anfang trainierte Carsten als einfaches Mitglied in der Volleyball-Mannschaft mit. Volleyball hatte er schon in Hameln gespielt, wo er aufgewachsen war. Seine Mutter war Hausfrau, sein Vater Prokurist, zusammen mit seinem älteren Bruder wohnten sie in einer Doppelhaushälfte mit Vorgärtchen. Im Grunde hatte Carsten gleich nach dem Abi nach Berlin ziehen wollen, aber seine Eltern beklagten sich, Berlin sei viel zu weit entfernt und Hannover doch auch schön.

Er gehorchte, ging nach Hannover und studierte dort Geografie. Dann begann er, bei der „dena“ zu arbeiten, der „Deutschen Energie-Agentur“, die helfen soll, die energie- und klimapolitischen Ziele der Bundesregierung umzusetzen. Carstens Bereich war die Energieeffizienzkampagne, ein Riesenprojekt, zu dem er alle Publikationen betreute. Er kniete sich förmlich in die Arbeit, jeden Tag, verbrachte zig Stunden in der Firma, war aber gleichzeitig das Gegenteil eines Karrieristen, stellte sich und seine Erfolge niemals in den Vordergrund. Nichtmal zu Hause, in den eigenen vier Wänden. Carsten und Stefan verdarben sich ihre Abende nie mit dem üblichen Gerede über die Arbeit. Da gab es Interessanteres.

Zu seinem regulären Job kam noch die Öffentlichkeitsarbeit im Vorstand von „Vorspiel“ oder bei der „BundesNetzwerkTagung des queeren Sports“, die gegen Homo- und Transfeindlichkeit im Sport kämpft und 2022 den Ethikpreis des Deutschen Olympischen Sportbundes erhielt. Als er allerdings die „Gay Games“, ein Sportfest der LGBTQ, nach Berlin holen wollte, sagte Stefan, sein Freund: „Wenn du das machst, bin ich weg.“ Was er nicht wörtlich meinte, Carsten sollte das alles einfach mal ein bisschen langsamer angehen.

Sie konnten ausgiebig miteinander streiten. „Du meine Güte“, fragten die Leute manchmal, die Carsten nur sanft und bedacht kannten, „steht ihr kurz vor der Trennung?“ Standen sie nicht. Der Streit war Teil eines verliebten Spiels. Ganz am Anfang, während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, hatten sie einander nur geschrieben. Erzähl von dir. Was magst du? Was magst du nicht? Und stellten fest, dass sie ein und denselben Spleen hatten: „UFO“, eine trashige Science-Fiction-Fernsehserie aus den Siebzigern, die sonst kaum ein Mensch kannte. Eines Tages fragte Carsten: „Ich habe alle Folgen auf DVD. Willst Du vorbei kommen?“ Sie schafften zwei Folgen. 2020 heirateten sie.

Stefan war der Morgenmuffel, Carsten schlug die Augen auf und war sofort hellwach. „Er hatte immerzu diese ekelhafte gute Laune“, sagt ein Freund und lacht. „Aber er war auf übertriebene Art sparsam“, sagt Stefan und erzählt die Geschichte von der Tafel Schokolade. Sie waren zusammen einkaufen, er, Stefan, legte seine Lieblingssorte, Erdbeer Joghurt, in den Korb, Preis knapp über einem Euro, und Carsten nahm sie mit strenger Miene wieder raus und legte sie zurück ins Regal: „Nee, die ist nicht im Angebot“

Für die Bildbände über die „Olympischen Spiele der Neuzeit“ galt die Sparsamkeitsregel jedoch nicht. Er besaß sie alle. Kaum waren die letzten Medaillen um die Sportlerhälse gehängt, bestellte Carsten den neuen Band. 2024 wollten sie zusammen zu den 33. Spielen nach Paris fahren.

Daraus wird nun nichts.

Carsten hüstelte. Er hüstelte unaufhörlich. „Geh doch mal zum Arzt, man kann ja kaum noch in Ruhe fernsehen“, sagte Stefan lustig und arglos. Carsten ging zum Arzt. Die Diagnose: Lungenkrebs. Die Prognose: Sie werden aber noch viele Jahre leben. Er hatte nie geraucht.

Im Herbst 2022 flogen sie nach Hawaii, ihre nachgeholte Hochzeitsreise, Corona war dazwischen gekommen, die Ärzte zeigten sich mit der Reise einverstanden. Carsten wanderte auf 4000 Metern Höhe über Lavafelder. Betrachtete den Sonnenuntergang von einem Vulkan aus. Auf dem Rückflug ging es ihm schlecht, eine Embolie in der Lunge. Er kam ins Krankenhaus, wurde stabilisiert. Er kam nach Hause, sein Zustand verbesserte sich nicht mehr. Er starb, nur eineinhalb Jahre nach der Diagnose.

Sein Grab liegt ganz nah beim Olympiastadion.

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