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Mike Füllgraebe

© privat

Mike Füllgraebe: Führen und führen lassen

Der Ingenieur sollte sich mehr bewegen, sagte die Ärztin. Also ging er tanzen

Mike ohne Werkstatt – unvorstellbar. Wenn ein Kaffeedrücker kaputt ging, kam Mike, maß mit seiner Schieblehre alles millimetergenau aus und druckte das Ersatzteil in seinem 3-D-Drucker nach. Oder er mixte einen Spezialkleber für die zerbrochene Thermoskanne. Getränkekästen schleppte Mike nicht in den fünften Stock Kreuzberger Wohnung. Er montierte eine Stahlkonstruktion aufs Dach mit Seilwinde und Haken, daran eine Plastikwanne, die er per Knopfdruck hoch und runterfahren lassen konnte. Den Hausbesitzer störte das nicht, denn das war Mike ja selber.

Heute sitzt Heike in dieser Wohnung und erzählt von diesem Mike, dessen Anwesenheit sie spürt, in jeder Tasse, die er sorgfältig für sie ausgewählt, in jeder der alten Flügeltüren, die er lange gesucht und überall eingesetzt, in jedem Schrank, der er gebaut hat.

Attendorn im Sauerland, da kommt er her. Halt und Stabilität gab ihm sein Großvater, ihn besuchte er jeden Tag. Da gab es Kühe, einen Garten. Und eine große Werkstatt! Der Vater war Buchhändler mit zarten Händen, lieb und ruhig. Gegen Mikes Mutter hatte er keine Chance. Sie regierte, etwas übertrieben, überspannt.

Metallprothese mit Krokodilklemme

14 war Mike, als er sich zwei Glieder seines Zeigefingers und ein Stück vom Daumen abtrennte. Für seinen Hund wollte er eine Hütte bauen mit der Kreissäge. Also baute er sich eine Art Metallprothese mit Krokodilklemme. In den Schulpausen stand er dann da wie ein Pirat und paffte den Rauch aus seiner festgeklemmten Zigarette.

Mike hatte ein Zimmer mit Balkontür, selbst nachts konnten Freunde bei ihm klopfen. Und sie klopften oft. Denn Mike tüftelte nicht nur lauter wildes Zeug. Mike spielte Schlagzeug, baute Bässe, Boxen und Verstärker. Vor allem aber: „Mike war ein guter Mensch. Ehrlich, zu sich und anderen.“ So sagt es sein bester Freund. Heike sagt: „Egal bei welcher Party, egal mit welcher Clique. Mike fand die Menschen, denn man hatte gleich das Gefühl, dass man ihm vertrauen konnte, dass er einen nicht verurteilte.“ Aus gut konnte bei ihm schnell gutmütig werden. In Berlin bot Mike seine Wohnung immer wieder als Unterschlupf an für Leute, die gestrandet waren.

Mike studierte Elektrotechnik an der TU. Fürs Geld brachte er Blumensträuße in Arztpraxen und Kanzleien. Auf einer Party traf er ein paar Hausbesetzer. Ob er jemanden kenne, der ihnen den Strom legen, die Heizung repariere könne? Mike zog ein. Auf einem Foto sieht man ihn im Blaumann mit weißem Hemd in die Kamera grinsen, während er knietief in einem Schacht steht, vor ihm ein Gewirr aus Wasserleitungen.

Wortlos in die Werkstatt

Er müsse sich mehr bewegen, sagte seine Ärztin, nachdem Mike wegen eines Bandscheibenvorfalls im Krankenhaus war. Der Ingenieur saß einfach zu viel am Schreibtisch oder stand zu lange in seiner Werkstatt. Also ging Mike tanzen, immer sonntags ins SO 36, „Café Fatal“, Standard, Swing, Argentino. Er tanzte mit Männern wie mit Frauen, er führte und ließ sich führen. Ganz weich war er da. Dass das „Cafe Fatal“ sich vor allem an ein schwul-lesbisches Publikum richtete, spielte keine Rolle. Schließlich räumte er bei sich zuhause das Wohnzimmer frei, öffnete die großen Flügeltüren und brachte Anfängern die ersten Schritte bei.

2018 lernte er Heike kennen. Jahrelang hatten sie um einander herumgetanzt, bis auf einmal etwas zwischen ihnen war. Sie fand toll, dass Mike die Nähe des Tanzens überhaupt nicht ausnutzte, um ihr zu nah zu kommen. Dass er nie prahlte. Erst war es ein vorsichtiger Kuss auf die Wange, Wochen später, nach einer Sommer-Tango-Nacht, küsste er sie richtig. Mike war anhänglich und liebevoll. Manchmal aber stand er einfach auf, wortlos, und musste in die Werkstatt.

2000 kauften Mike und ein Freund das heruntergekommene Haus in Kreuzberg, direkt am Kanal. Tag und Nacht schufteten sie. Mikes Wohnung, ganz oben, erstreckt über zwei Etagen. Ein Zimmer war für seine Werkstatt, ein anderes für sein Schlagzeug, Schränke, Tische und auch sein Bett baute er selber. 2008 übernahmen Mike und derselbe Freund ein Ingenieursbüro. Mit ihren Mitarbeitern kümmerten sie sich um Brandschutz, Instandsetzungen und Sanierungen, um Heizung, Lüftung, Sanitär und Elektro. Ob Bahnhof, Gründerzeitvilla, Biogasanlage, Universitäten oder Neubauten – da ging es schonmal um Baukosten von mehreren Millionen Euro.

Es war zu dieser Zeit, als eine Ziehtochter in Mikes Leben kam. Er spielte ausgiebig mit ihr, hörte ihr zu, half ihr mit den Hausaufgaben, war immer für sie da. Die Beziehung zur Mutter endete, doch die Tochter besuchte Mike weiterhin, denn er gab ihr Halt. 

Ruhe fand er in der Luft. Als Jugendlicher waren es Modelflugzeuge, als Erwachsener hob Mike selbst vom Boden ab. 1985 flog er das erste Mal, seitdem war angefixt, geradezu verliebt ins Fliegen. Erst mit dem Gleitfallschirm, dann mit dem Drachen und schließlich mit dem Trike, einem Ultraleichtflugzeug mit eigenem Antrieb. Im Verein übernahm er den Vorsitz, in Brandenburg hatten sie ihre Basis.

Für ihn war es Routine

Hierhin lud Mike an diesem Freitagabend im August ein. Eine Feier sollte es geben, Heike und drei Freundinnen vom Tanzen waren auch dabei. Mike legte die Musik auf, plötzlich kam er zu Heike auf die Tanzfläche, nahm sie in den Arm, „Du bist das allerliebste, das ich habe“, und überreichte ihr einen Ring. Am Samstag sollte es dann in die Luft gehen. Das Wetter war gut, sie Sonne schien, alle freuten sich auf das Abenteuer. Für Mike war es Routine. Zweimal war er schon abgehoben, dann setzte sich Martina hinter Mike in den kleinen Flieger. Es wurde noch ein Foto gemacht, auf dem strahlt sie, und Mike grinst. Dann gab Mike Gas, unter ihnen wurden die Freundinnen, wurde Heike immer kleiner. So schön war es. Federleicht fühlt man sich hier oben, so frei und unbeschwert. Wie es zu dem Absturz kam, ist bis heute ungeklärt.

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