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Ina Herbell (1958-2018)

© privat

Nachruf auf Ina Herbell Geb. 1958: Aber wer kümmert sich darum?

Eine dieser DDR-Biografien. Hoch ausgebildet, erfolgreich, dann, nach der Wende, eine Fortbildung nach der anderen. Dann hatte sie Glück

"Dort!“ Der Junge, neun, streckt seinen Arm nach vorn und zeigt zur Straße. Die Straße führt zwischen einem Spielplatz und einem Park entlang. „Da kommt man nie rüber, da fahren immer so viele Autos.“ Er läuft zu der Stelle, klick, ein Foto. Dann kramt er einen Stift aus seinem Rucksack und einen Zettel, kritzelt den Namen der Straße darauf und das Wort „Ampel.“

Ein Mädchen, elf, kratzt einige rotbraune Stückchen von der Stange eines Klettergerüsts und pustet sie von ihrer Fingerspitze in den Sand, holt ihr Handy hervor, klick, ein Foto, und schreibt dann in Schönschrift auf die herausgerissene Seite eines Heftes den Namen des Spielplatzes und das Wort „Rost“.

Ein Junge und ein Mädchen bleiben vor einem Beet stehen. Rosa Rosen, Lavendel, Hortensienblüten in einem Blau, das sie an verlaufene Tinte erinnert. Klick, ein Foto, ein Wort auf ein Blatt Papier: „Hübsch“.

Alle Kommentare kommen in eine Denkzettelkiste, die Ina Herbell trägt. Zwei Stunden lang ist sie mit den 15 Grundschülern durch das Wohngebiet gelaufen, an einem Schulhof vorbei, durch zwei schlammige, schlecht riechende Tunnelunterführungen, über drei Spielplätze. Jeden Winkel haben die „Kiezdetektive“ inspiziert und dann die schönsten und die scheußlichsten Ecken notiert. Ina Herbell, vom Kinder- und Jugendbeteiligungsbüro Marzahn-Hellersdorf, ordnet das Material, übergibt es dem Bürgermeister und den Stadträten, die schließlich zu einer Versammlung im Ratssaal laden, wo alle Kinder Zettel für Zettel mit den Bezirkspolitikern besprechen.

Im Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention, die 1992 von der Bundesrepublik ratifiziert wurde, heißt es: „1. Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. 2. Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden.“

Das klingt nicht schlecht, aber wer kümmert sich darum?

Ina Herbell. Seit 1993. Um die Wohngegenden, um Ferienreisen für die, deren Eltern sich keine Ferienreisen leisten können, um die U-18-Wahlen. Sie bekommt dafür die „Goldene Göre“, den Preis des Deutschen Kinderhilfswerkes.

Sie kümmert sich weiter und immer weiter, auch als sie längst diese Todeskrankheit in sich trägt. „Können Sie mich nicht gesund schreiben?“, fragt sie den Onkologen. „Ich möchte wieder richtig arbeiten.“ – „Ja“, antwortet der, „das könnte ich machen, aber es wäre nur ein so dahingeschriebener Satz. Sie werden nicht mehr gesund.“

Der Humanistische Verband, für den sie arbeitet, möchte nicht, dass sie all ihre Kraft unentgeltlich aufbringt, und findet eine Lösung. Es ist nicht viel, was sie bekommt, aber das ist ihr gleich, darum geht es nicht. Selbstlos, kein leeres Wort, das man im Nachhinein an jemanden klebt, um ein Leben glattzubügeln, es ein wenig würdevoller erscheinen zu lassen. Ina Herbell füllt dieses Wort aus auf eine Weise, die niemanden zwingt, tausendmal „Danke“ zu sagen. Im Beruflichen, im Privaten. „Darf ich dein Auto nehmen?“, fragt Karl, ihr Jüngster. – „Aber ja“, sagt sie und zögert nicht einen Augenblick. „Ich hab zwar selbst einen Termin, aber wir kriegen das schon organisiert.“ Oder: Sie ist bereits krank, aber den kleinen Athur, ihren Enkel, zum Schwimmtraining zu begleiten, ist das Selbstverständlichste. Oder: Sie hat nur noch zwei Tage, zwei Tage Leben. Aber er ist so heiß, dieser Sommer, und ihrem Vater setzt die Hitze zu. Also besorgt sie ihm einen Ventilator.

Ihre Wärme den Menschen gegenüber einerseits, andererseits die Wirklichkeit, die sie nimmt, wie sie sich nun einmal zeigt. Vielleicht hilft ihr dabei die erlernte Disziplin. Sie kommt aus einer Sportlerfamilie. Ihre Mutter war Eiskunstlauftrainerin in der DDR, holte mit ihren Läufern Olympia- und Weltmeistertitel. Ihr Vater war Sportlehrer, sie selbst Leichtathletin, staatliche Sportschule. Doch stimmten ihre Maße nicht: zu klein für die große Karriere. Sie ging als Volontärin zur „Jungen Welt“, studierte Außenpolitik in Potsdam, schrieb dann wieder für die „Junge Welt“ bis zur Wende. Was nun? Diese DDR-Biografien: Hochausgebildete Leute, die jetzt von Fortbildung zu Fortbildung geschoben werden. Ina Herbell soll Sekretärin werden und findet dann die Arbeit beim Humanistischen Verband. Sie hat Glück. Bis diese verdammte Krankheit das Glück zerstört.

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