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Fritz Stechert (1939 - 2017)

© privat

Nachruf auf Fritz Stechert (Geb. 1939): Wie frei ist einer, über dessen Schicksal andere entscheiden?

Er wusste, was er wollte. Und er war schizophren. Wie verhält es sich da mit der Freiheit? Der Nachruf auf einen, der sich arrangierte.

Von David Ensikat

Was ihn so besonders machte? Er wusste, was er wollte, da war er ziemlich klar. Klarer als die meisten seiner Mitbewohner. An dem Tag, an dem er ankam, etwa: „Ich will weg.“ – „Aber Herr Stechert, so schlecht ist es hier doch gar nicht.“ – „Dann können Sie ja bleiben. Ich will nach Hause.“

Nun war das hier sein neues Zuhause. Die Einrichtung mit den Dreibettzimmern und den komischen Bewohnern, den Betreuern und der Ärztin, zu der er sagte: „Die Pillen, die können Sie nehmen. Ich brauch’ die nicht.“

War natürlich Quatsch. Er brauchte die Pillen, auch wenn sie seine Empfindungen dämpften. Ohne die Pillen, mit sämtlichen Empfindungen, war das Leben weitaus schwieriger.

Sein neues Zuhause wollte er nicht. Die Pillen wollte er nicht. Und so war das nun mit seinem Willen. Er war da, und hatte hin und wieder nicht so viel mit dem Tatsächlichen zu tun, mit Vernunft, Notwendigkeit.

Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit. Was der Romantiker für Zynismus hält und der Abgeklärte für Vernunft, das kann man an diesem Lebensfall ja einmal überprüfen.

Wie frei ist einer, über dessen Schicksal andere entscheiden?

Fritz Stecherts andere Besonderheit neben dem starken Willen wird von den Fachleuten fürs Besondere als „paranoide Schizophrenie“ bezeichnet. Seit wann er so drauf war, kann niemand sagen, eine Berufsunfähigkeitsrente bezog er jedenfalls schon länger. Das lässt sich aus der Tatsache schließen, dass er ein „Altfall“ war und deshalb mehr Taschengeld von seiner Rente bekam als seine Mitbewohner: 147,91 statt 112 Euro pro Monat.

Der Rest ging an die Einrichtung, und da das bei weitem nicht genug war, zahlten noch die Pflegeversicherung und das Sozialamt.

Wer noch etwas über ihn erzählen kann, das sind die Leute von der Einrichtung und der Rechtsanwalt, den ein Gericht als seinen Betreuer fürs Formale eingesetzt hatte, dessen Betreuung jedoch weit über die Formalitäten hinausging.

"F. zeigt ein erfreuliches, geistiges Streben"

Was man weiß: Fritz Stechert wurde in Oranienburg bei Berlin geboren, von seinem Vater sprach er nie, der Mutter, sagte er manchmal, sei er gerade erst begegnet. – „Sind Sie sich da sicher? Die müsste doch längst tot sein.“ – „Die war da und hat meinen Plattenspieler kaputt gemacht.“

Es gibt ein Zeugnis aus der achten Klasse: F. zeigt ein erfreuliches, geistiges Streben. Er hat sich bemüht, Gutes zu leisten. Es gibt eine Beurteilung von Woolworth, wo er als Dekorateur gearbeitet hat: Er zeigte sich einsatzbereit und bescheiden. Es gibt den Nachweis eines absolvierten Grafikstudiums an der Hochschule für Bildende Künste.

Und es gab Zeichnungen von ihm, detailreiche Landschaften, Studien menschlicher Organe. Die superrealistische Grafik eines Ohres hing lange auf dem Flur der Einrichtung. Fritz Stechert hatte für Anatomielehrbücher die Abbildungen angefertigt. 1964 bis 1966 hat er an der Hals-Nasen-Ohren-Klinik der Universität Tübingen gearbeitet: Herr Stechert hat seine Aufgaben mit Fleiß und zur Zufriedenheit erledigt und in der Gestaltung seiner Entwürfe auch eigene Initiative entwickelt. Das einzige Bild von ihm, das sie in der Einrichtung noch finden: eine italienische Landschaft. Über Italien sprach er oft, da muss er mal gewesen sein.

Fritz Stecherts Italienbild
Fritz Stecherts Italienbild

© privat

Als der Anwalt die Betreuung übernahm, war Herr Stechert 62, lebte in einer kleinen Wohnung im Hansaviertel und fiel oft unangenehm auf. Brach seine Schizophrenie aus, lief er durch die Gegend, schlaflos, fühlte sich bedroht, beschimpfte Nachbarn, tat merkwürdige Sachen, und wenn ihn jemand fragte, warum, verwies er auf seinen Doppelgänger, den anderen Herrn Stechert. Was keine bequeme Ausrede war, sondern ein beunruhigendes Wissen. Ihm kamen immerzu Dinge abhanden; dafür musste es doch eine Erklärung geben.

Der Anwalt bezweifelte, dass die Nachbarstöchter nachts durch die Wände kamen und ihn bestahlen. Aber sonst war er geduldig und freundlich. Herr Stechert besuchte ihn oft in der Kanzlei, ein Ausflug nach Charlottenburg, ein Gespräch mit einem kultivierten Mann, der ihn nicht so zweifelnd ansah wie die Leute sonst.

Doch der Anwalt tat auch Dinge gegen seinen Willen. Wenn Herr Stechert verwirrter war als sonst, wenn er ins Krankenhaus gebracht wurde und dort bleiben sollte, bis die Medikamente ihn von seinen Ängsten befreien würden, dann war es am Anwalt, die nötigen Schritte einzuleiten: Er schaltete das Betreuungsgericht ein, welches entschied, dass man den Patienten drei Wochen oder mehr festhalten durfte.

Grundlage war eine ärztliche Diagnose, in der von einer „akuten Exazerbation“ die Rede war, was sowohl dringlicher als auch kenntnisreicher wirkte, als wenn dort „plötzliche Verschlechterung“ gestanden hätte.

Mit der Wirkung der Medikamente setzte bei Herrn Stechert immer wieder die Einsicht ein, dass der Aufenthalt im Krankenhaus ihm guttat. Ruhig und „medikamentös eingestellt“ kehrte er in seine Wohnung zurück, nahm die Pillen irgendwann dann doch nicht mehr, weil er sie vergaß oder weil sie ihn müde machten, und dann ging die Sache von vorne los. Der „Drehtüreffekt“, rein ins Krankenhaus, raus und wieder rein.

So kam es, dass der Anwalt drei Jahre später, nach der Rempelei mit einer Nachbarin und einer Räumungsklage Herrn Stechert eröffnete: „Wir sollten uns nach einem Platz in einer Einrichtung umschauen.“ Er wusste, dass das kein schönerer Ort als die Wohnung sein würde. Aber es musste etwas geschehen.

Es geschah. Der Anwalt packte die Dinge in Kisten, von denen er meinte, dass sie die wichtigsten für seinen Klienten seien. Bei den Klassikschallplatten war es am schwierigsten; es waren zu viele. Herr Stechert stand daneben und war überfordert. Gemeinsam mit dem Hausmeister, der froh war, dass der schwierige Mieter raus war, fuhr der Anwalt die Kisten in die Einrichtung, brachte Herrn Stechert hin und kam sich vor wie ein Verräter.

Blöd, dass man nicht heimlich rauchen kann

Eine Collage, die in der Einrichtung an der Wand hängt
Eine Collage, die in der Einrichtung an der Wand hängt

© privat

In der Einrichtung waren sie sofort der Meinung, dass der Neue zu ihnen passte. Er war ausgesprochen höflich, er war älter und gebildeter als die anderen, er brachte Kultur in den Laden, seine Bilder, die Opernplatten, die er auflegte. Bei den Beschäftigungsangeboten, Basteln, Gesprächskreise, Theatergruppe, schaute er nur manchmal vorbei. Der Kollektivgedanke war ihm fremd. Jegliche sportliche Betätigung sowieso.

Einen Zwang gab es nicht, nur Vorschläge. Und es gab jetzt Menschen um ihn herum. Die Mitbewohner, die so merkwürdig waren wie er selbst und ein jeder völlig anders, die Gruppenleiter, die Ärztin: lauter Menschen, mit denen er sprechen konnte, die ihn nahmen, wie er war. Er brabbelte pausenlos vor sich hin, na und? Andere schwiegen immerzu, wieder andere redeten wirres Zeug.

Ein halbes Jahr mag es gedauert haben, bis Herr Stechert sich heimisch fühlte, dann wurde aus der Unterbringung ein Zuhause. Er richtete sich seine Ecke im Dreibettzimmer ein, arrangierte Obst auf seinem Tisch zu Stillleben, hörte seine Musik und trank heimlich von dem Wein, den er reingeschmuggelt hatte. Blöd nur, dass man nicht heimlich rauchen kann.

Er machte Ausflüge durch die Stadt, besuchte den Anwalt in der Kanzlei, lief mit dem Taschengeld zu Woolworth und kam mit einem Stapel bunter Pappbecher oder ein paar supergünstigen Strandmatten zurück, feierte gerne alle Feste mit und tanzte, wenn getanzt werden durfte.

Es gab Ausflüge ins Kino, Ausstellungen, Konzerte. Aus dem Kino lief er raus, sobald er mit dem Film nicht einverstanden war, in Ausstellungen erläuterte er die Kunst, im Konzert unterbrach er seine Brabbelei, sobald die Musik einsetzte.

Er war doch recht vergesslich

Vor ein paar Jahren haben sie eine große Reise gemacht, eine Woche Türkei. Die Betreuer erzählen, wie bei einem Ausflug Herrn Stechert und zwei anderen aus der Gruppe zur selben Zeit die Hosen runterrutschten. Absurder Zufall, normaler Irrsinn, auf jeden Fall ein lustiger Moment.

Und sie erinnern sich an den anderen Ausflug in ein schönes Küstenstädtchen, wo Herr Stechert bekannt gab, dass er gedenke, hier zu bleiben. Dann ging es zurück zum Bus, Herr Stechert stieg ein, und von dem Vorhaben war keine Rede mehr. Er war doch recht vergesslich.

Als er kurz vor Weihnachten starb, schrieb eine Mitbewohnerin ein Gedicht für ihn: Du warst immer ein guter, ruhiger Geselle / wir waren meistens auf der gleichen Welle / Die Kunst hat uns verbunden/ hast jetzt alles überwunden…

Das Gedicht lasen sie auf der Trauerfeier vor. Ein paar seiner Mitbewohner waren da, die Betreuer und der Anwalt.

Herr Stechert wollte, das hat er mal gesagt, im Sarg bestattet werden, nicht in der Urne. Das Amt aber bezahlte nur die Feuerbestattung, denn es gab kein Schriftstück mit seinem letzten Willen.

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